Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
Selbstbewusstsein und Selbstachtung vorhanden sein sollen. Depressive Menschen fühlen sich erschöpft, wo man Energie, Initiative und Antrieb von ihnen erwartet, und befinden sich in einem Zustand innerer Leere und fühlloser Gleichgültigkeit, statt sich positiv gestimmt ans Tageswerk zu machen.
Gemessen an den herrschenden Werten und Vorstellungen, glaubt der Depressive zu scheitern und zu versagen. Wenn man sich für die erlebten Mängel selbst verantwortlich fühlt, entstehen zusätzlich Schuldgefühle. Selbstanklagen werden erhoben. Die Beweislast der Anklage ist erdrückend. In dem Prozess, den man gegen sich selbst zu führen hat, ist Freispruch oder Begnadigung nicht vorgesehen. Das Verfahren läuft auf eine Verurteilung hinaus, manchmal auf ein Todesurteil.
Wie lassen sich Depressionen herstellen?
Stellen sich Gefühle nicht irgendwie einfach ein, und haben sie ihre Ursachen nicht außerhalb von uns selbst? Man ärgert sich über dies oder das und über diesen oder jenen. Wir reagieren doch mit unseren Gefühlen auf die Umwelt oder, wenn schon, steigen Stimmungen auf mysteriöse Weise, ohne unser Zutun, in unserem Inneren hoch!
Das ist vielleicht eine bequeme und verbreitete Vorstellung, aber Gefühle und Stimmungen, positive wie negative, hat man erst, nachdem man sie hergestellt hat. Die Produktion von Gefühlen erfolgt über die Bewertung von Tatsachen. Gefühle und Stimmungen sind hausgemacht. Auch wenn wir uns über jemanden ärgern, ärgern wir uns natürlich immer höchstpersönlich selbst. Niemand kann uns ärgern. Wir geben allenfalls jemandem die Erlaubnis, uns zu ärgern. Wir sind als Stimmungs-Produzenten immer mit von der Partie. Depressionen gibt es nicht, solange sie nicht hergestellt werden.
Gute wie schlechte Stimmungen werden erzeugt, indem wir etwas bewerten: das eigene Tun, die eigene Person, das Tun anderer, die Welt um uns herum. Werte, die wir beim Bewerten verwenden, werden wiederum bewertet. Wir unterscheiden gute von schlechten, hohe von niedrigen Werten. Dadurch machen wir es möglich, uns selbst als wertvoll oder wertlos zu betrachten – was die entsprechenden, damit einhergehenden Hochgefühle oder Abwertungsgefühle bewirkt. Wenn wir uns also als stark, aktiv und gut bewerten, bleibt die gute Stimmung nicht aus. Ganz anders, wenn wir uns für schwach, passiv und böse halten. »Wertneutral« gehen wir jedenfalls am allerwenigsten mit uns selber um.
Positive Werte stellen eine Aufforderung dar, sie in unserem eigenen Leben umzusetzen. Sie sprechen eine deutliche und direkte Sprache. Sie fordern uns auf. Sie sind Ansprüche, die wir an uns selbst und auch an andere stellen. Wertorientierung ist Anspruchshaltung.
Unsere Bewertungen folgen bestimmten Vorstellungen, die aus der Unterscheidung eines Ist-Wertes und eines Soll-Wertes entstehen. Der Ist-Wert umschreibt einen Zustand, wie er ist. Der Soll-Wert gibt an, was erwartet, gewünscht oder ersehnt wird. Das, was nicht vorhanden ist, gegebenenfalls aber vielleicht schon einmal da war oder künftig sein soll. Oder man möchte weniger bzw. mehr vom Vorhandenen.
In einem nächsten Schritt wird die Differenz zwischen Ist- und Soll-Wert negativ bewertet. Erst damit ist die festgestellte Tatsache zu einem Problem gemacht worden.
Probleme sind dazu da, dass man sie löst, sagt der Volksmund. Probleme rufen nach ihrer praktischen Bewältigung. Sie rufen Akteure und Aktionen auf den Plan. Wer nach Lösungen sucht, hat Probleme.
Das Leben – eine Zentralheizung
Ein Gedankenexperiment: Stellen wir uns eine Zentralheizung vor. Sie verfügt über einen Thermostat, der die aktuelle Raumtemperatur misst. Diese liegt im Augenblick bei 15 Grad Celsius. Als Soll-Wert sind jedoch 20 Grad Celsius eingegeben worden. Die Soll-Ist-Differenz von 5 Grad Celsius signalisiert dem Heizsystem ein Problem. Die Heizung beginnt also, das Problem auf die ihr einprogrammierte Weise zu lösen. Sie fährt den Brenner höher, stellt mehr Heizenergie her und versucht, den Ist-Wert an den Soll-Wert anzugleichen. Gelingt ihr das, kann sie die Raumtemperatur von 15 Grad Celsius auf 20 Grad Celsius erhöhen, hat sie das Problem gelöst. So weit – so gut.
Man kann sich nun aber auch eine Situation vorstellen, in der es der Heizung nicht gelingt, das Problem zu lösen, was immer die Gründe dafür sein mögen: Der Brenner des Heizungssystems ist überfordert, den Soll-Wert zu erreichen; die Außentemperatur ist so tief, die Hausisolierung so
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