Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
eine eigenverantwortliche und entscheidungsfähige Person ist? Was macht das Hirndoping mit ärztlichem Rezept moralisch einwandfreier als das ohne Rezept? Was macht den Arzt so selbstverständlich moralisch unverdächtig? Schließlich ist er doch heute schon der Hauptdealer für Hirndoping, pardon: Medikamentenmissbrauch.
Die offizielle Freigabe des Hirndopings wird auch deshalb als moralisch vertretbar betrachtet, weil so kein schlechtes Gewissen erzeugt bzw. Gefühlen der Selbstentfremdung und Identitätskrisen vorgebeugt werde.
Einspruch: Woher kommt die Gewissheit, dass Selbstentfremdung und Identitätskrisen mit der verweigerten Erlaubnis des Dopings zu tun haben und nicht mit dem Doping selbst?
Moralisch angemessen sei es, das Potential des Hirndopings zu nutzen, um Lebensfreude und Mitgefühl zu steigern und durch Verstärkung der kognitiven und emotionalen Kompetenz (zum Beispiel in Wissenschaft und Wirtschaft) das Leben vieler Menschen besser zu machen.
Einspruch: Woher diese außergewöhnlich positive Zuversicht? Die gegenteilige Behauptung läge näher: Es spricht viel dafür (zumindest mehr als für die eben dargestellten Behauptungen), dass Adolf Hitler und viele Soldaten der deutschen Wehrmacht mit einem wirksamen Amphetamin (Pervitin) gedopt waren; hat dieses Hirndoping tatsächlich dazu beigetragen, Lebensfreude und Mitgefühl zu fördern und das Leben vieler Menschen besser zu machen?
Moralisch angemessen sei es, heißt es weiter, für Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen, zum Beispiel durch eine großzügig subventionierte Verbreitung von Hirndoping gerade unter den Angehörigen benachteiligter Schichten.
Dazu kann man nur noch bemerken: Früher hieß es: »Freibier für alle!« Nun könnte es heißen: »Neurodoping für alle!« Dabei wäre zu berücksichtigen, dass es besonders auch dem Hartz-IV-Bezieher aus moralischen Gründen (!) möglich gemacht werden muss, den Dealer seines Vertrauens aufzusuchen und sein Hirndoping zu finanzieren. Die Schulspeisung für Kinder aus »sozial schwachem Milieu« sollte als Nachtisch immer auch eine Leckerei besagter Substanzen bereithalten.
Doch die Gerechtigkeitsüberlegungen der Memorandum-Autoren gehen noch weiter: Da die kognitiv Unterprivilegierten von Hirndoping mehr profitieren als die kognitiv Privilegierten, müssten sie beim Doping besonders berücksichtigt werden.
Also: Eliteuniversitäten für die Privilegierten – Hirndoping fürs Prekariat!
Und es werden schließlich auch praktische Vorschläge für unsere Politiker gemacht: »… der Staat (könnte) den Kauf von Neuro-Enhancement-Präparate(n) durch wohlhabende Personen besteuern und das damit gewonnen Geld … etwa zur Subvention von Neuro-Enhancement-Präparate(n) für Einkommensschwache (verwenden).« [183]
Also: Eine neue Solidaritätsabgabe. Nicht mehr für unsere benachteiligten Brüder und Schwestern im Osten, sondern eine Hirndoping-Solidaritätsabgabe für unsere benachteiligten Brüder und Schwestern aus dem Prekariat. Könnte das nicht wirksam dazu beitragen, den solidarischen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft weiter voranzubringen?
Schließlich der moralische Appell an die Pharmaindustrie: »Der Nachweis, dass ein Präparat zuverlässig ein nennenswertes Enhancement bewirkt, obliegt dem Pharmaunternehmen, das dieses vermarktet.« [184]
Hier doch noch ein entschiedener Einspruch: Angesichts der inzwischen vielfältig nachgewiesenen Praktiken der Pharmaunternehmen, [185] sich diese Nachweise so zurechtzuschustern, dass sie den Absatz der eigenen Produkte vergrößern und nicht verringern, ist dieser Appell nichts anderes als die direkte Aufforderung an Pharmaunternehmen, ihren Werbeetat für Präparate zum Hirndoping zu erhöhen.
Nach so viel Moral und teilweise abstrusen Lächerlichkeiten sehnt man sich nach einer ernsthaften, das heißt ethischen Reflexion. Das Memorandum bleibt vieles schuldig. Folgende zwei Auslassungen scheinen mir dabei besonders wichtig.
Der neue Arzt – die neue Gesundheit
Naiv wird die Frage nach der Rolle des Arztes umgangen und ebenso die nach der Unterscheidung zwischen krank und gesund. Eine Frage, die für das Hirndoping und seine Beurteilung von zentraler Bedeutung ist. Das Hirndoping ist Teil einer bisher weitgehend unterschätzten Veränderung der Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit und der Rolle ärztlichen Handelns. Gesundheit ist nicht länger etwas Gegebenes, das aber selbstverständlich von Gefahren bedroht sein
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