Mieses Karma
und meinten
es natürlich nicht ernst. Genauso wenig, wie ich es ernst meinte, wenn ich sagte: «Du siehst wunderbar aus», oder: «Deine
Figur ist großartig», oder: «Du übertreibst, deine Nase hat nicht das Zeug zum Hubschrauberlandeplatz.»
So plapperten wir alle heuchlerisch durcheinander. Bis Sandra Kölling den Salon betrat.
Sandra sah aus wie die Viertplatzierte bei einem «Sabine Christiansen Look Alike»-Wettbewerb und war meine Vorgängerin als
Moderatorin des «Late Talk». Ich hatte ihren Job bekommen, weil ich besser war als sie. Und weil ich fleißiger war. Und weil
ich die Chefetage dezent darauf hingewiesen hatte, dass sie ein kleines Kokainproblem hatte.
Jeder in dem Salon wusste, dass Sandra und ich seitdem eine Feindschaft pflegten, wie man sie sonst nur aus amerikanischen
Soaps kennt. Entsprechend hörten alle Frauen in dem Salon auf zu plappern und blickten uns an. Sie erwarteten den erbitterten
Verbalkampf zweier hasserfüllter Hyänen. Und freuten sich darauf.
Sandra fauchte mich an: «Du bist das Letzte.»
Ich antwortete nichts. Stattdessen fixierte ich ihre Augen. |21| Lange. Hart. Eiskalt. Die Raumtemperatur sank um mindestens fünfzehn Grad.
Sandra begann zu frösteln. Ich starrte sie weiter an. Bis sie es nicht mehr ertragen konnte und den Salon verließ.
Die Frauen begannen wieder zu plappern. Lorelei stylte mir wieder die Haare. Und mein Spiegelbild lächelte mir zufrieden zu.
Als Lorelei ihr Werk vollendet hatte, lagen meine Haare perfekt, und nur Archäologen hätten unter der Schminke meine Augenfalten
finden können. Selbst meine abgeknabberten Fingernägel wurden unter künstlichen Nägeln versteckt. Jetzt fehlte nur noch das
Kleid, das mir gleich aufs Zimmer geliefert werden sollte. Von Versace! Ich freute mich wie irre auf den Fummel, der mehr
kostete als ein Kleinwagen und den Versace mir für die Verleihung natürlich kostenlos anfertigte. Ich hatte in einer Berliner
Boutique bereits die Anprobe gemacht und war der festen Überzeugung, an diesem Abend das beste Kleid der Welt zu tragen: Es
hatte ein wunderschönes Rot, lag sanft auf der Haut, ließ meine Brüste größer aussehen und kaschierte meine Schenkel – was
will eine Frau mehr von einem Kleid?
Ich saß voller Vorfreude in meinem Hotelzimmer und dachte stolz daran, dass ich einen weiten Weg gekommen bin: vom Kind in
der Plattenbausiedlung, in der man Versace wahrscheinlich für einen italienischen Fußballer gehalten hätte, bis hin zur erfolgreichen
Polit-Talkerin, die vielleicht in zwei Stunden den Deutschen Fernsehpreis gewinnen würde, umhüllt von einem traumhaften Versace-Kleid,
das ihr Daniel Kohn in der Nacht vom Leib reißen würde, um dann wilden Sex mit ihr zu haben …
In diesem Augenblick klingelte mein Handy. Es war Lilly. |22| Ein Tsunami des schlechten Gewissens überrollte mich: Lilly hatte Sehnsucht nach mir. Und ich dachte daran, meinen Mann –
ihren Vater – zu betrügen!
Die Geburtstagsparty war in vollem Gange, und Lilly plapperte fröhlich drauflos: «Erst haben wir Sackhüpfen gemacht, dann
Eierlaufen und dann eine Tortenschlacht ohne Torten.»
«Tortenschlacht ohne Torten?», fragte ich verwirrt nach.
«Wir haben uns mit Ketchup bespritzt … und mit Mayo … und mit Spaghetti Bolognese geworfen», erklärte sie. Ich stellte mir lächelnd die mäßige Begeisterung der anderen Mütter
vor, wenn sie ihre Kinder abholen würden.
«Oma hat angerufen und mir auch gratuliert», sagte Lilly dann, und das Lächeln fiel mir aus dem Gesicht. Seit Jahren ließ
ich nichts unversucht, meine kaputten Eltern aus unserem Familienleben herauszuhalten.
Mein nichtsnutziger Vater hatte uns für eine seiner vielen Eroberungen verlassen, als ich so alt war wie Lilly jetzt. Seitdem
steigerte meine Mutter den Alkoholumsatz in dem Quick-Shop ihrer Plattenbausiedlung um jährlich circa zwölf Prozent. Wenn
sie einen auf «liebe Oma» machte, tat sie das in der Regel nur, um noch mehr Geld herauszuschinden, als ich ihr ohnehin schon
monatlich überwies.
«Wie war Oma denn drauf?», fragte ich vorsichtig, hatte ich doch Angst, dass sie schon besoffen war, als sie mit Lilly sprach.
«Sie hat gelallt», antwortete Lilly mit dem gelassenen Tonfall eines Kindes, das seine Oma nie anders erlebt hat. Ich suchte
nach den richtigen Worten, um das Lallen zu erklären. Doch bevor ich auch nur ein einziges gefunden hatte, schrie Lilly plötzlich:
«Oh,
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