Milano Criminale: Roman (German Edition)
fällt. Das Geschrei der Leute wird noch lauter, und in der Ferne tauchen ein paar Polizisten auf.
Natürlich hat Vandelli nicht abgewartet, wie der Western-Showdown ausgeht; er hat die Beine in die Hand genommen und flieht wie ein Hase.
Antonio fordert ihn zum Stehenbleiben auf und gibt ein paar Schüsse ab, die unter wildem Funkenschlag wie in einer Schweißerwerkstatt an dem Metall der Bahngleise abprallen.
»Er ist zu weit weg.«
Der Bulle folgt ihm über die Bahnsteige, immer bedacht, nicht zu stürzen, mit der Waffe in der Hand und dem Herz, das ihm bis zum Hals klopft.
Plötzlich schrillt ein Pfiff durch die Luft; unter Knirschen und Schnaufen fährt mit hohem Tempo ein Zug in den Bahnhof ein, hinter sich eine endlose Reihe Güterwaggons.
Santi flucht; wenn der Junge vom Giambellino es schafft, vor dem Zug die Gleise zu überqueren, hat er ihn auf jeden Fall verloren. Dann muss er den ganzen langen Güterzug abwarten, eine halbe Ewigkeit, in der der Flüchtende längst über alle Berge ist.
Es gibt nur eins, was er tun kann, und das, so gut er kann. Er bleibt stehen, atmet tief ein, packt die Beretta mit beiden Händen und schießt.
Epilog
Im Krankenhaus San Raffaele herrscht hektisches Treiben. Ärzte, Pflegepersonal und Polizisten. Das gesamte Stockwerk wird von Uniformierten bewacht, während auf der Straße ein knappes Dutzend Steifenwagen steht, um Gandula und die zwei Comasina-Jungs festzunehmen.
»Wir bringen sie alle in den Bau«, sagt Santi, während er Pugliesis gesunde Hand drückt. Der Sovrintendente trägt einen Arm in der Schlinge von der Schulterverletzung, doch sonst geht es ihm gut. Nicola Pinto war auf der Stelle tot.
»Wo liegt er?«, fragt der Commissario dann.
»Im Zimmer ganz hinten.«
Sie verabschieden sich per Handzeichen, und Antonio geht den Flur entlang.
»Lass uns einen Moment allein«, fordert er den Wachbeamten auf, als er das Zimmer erreicht. Der Mann entfernt sich, und Santi tritt ein.
Vandelli ist ungekämmt. Weiß wie ein Leintuch, erschöpft von den vielen schlaflosen Stunden, sitzt er mit verbundenem rechten Bein in einem Rollstuhl neben dem Fenster.
»Verpiss dich«, knurrt er dem Commissario entgegen.
»Wie ich sehe, geht es dir gut. Und du hast Glück, dass das Bein nicht lahm bleibt«, erwidert der Polizist.
»Das nächste Mal bin ich derjenige, der dir eine Kugel verpasst, aber in den Kopf, darauf kannst du dich verlassen, Bulle.«
»Wenn es ein nächstes Mal gibt.«
»Scheiße, zieh Leine.«
»Ich geh ja schon. Ich wollte nur, dass du weißt, dass ich deinen Freund nicht töten wollte. Ich hatte keine Wahl: Er hat mir mit der Pistole ins Gesicht gezielt. Ich oder er.«
Robertos Miene verdüstert sich. Er sieht aus dem Fenster, hat keine Lust zu streiten.
»Zieh Leine, hab ich gesagt.«
»Wir zwei sind uns ähnlicher, als du denkst«, fährt Antonio fort, ohne auf ihn zu achten. »Sieh mal, wenn man immerzu Jagd auf jemanden macht, wird man sich am Ende immer ähnlicher, passt sich an, im Reden und Handeln. Selbst in der Art zu denken. Die Sache ist die, dass wir alle auf der Suche nach Glück sind, Räuber und Gendarm. Und dafür tun wir alles, sogar töten. Pinto war mein Erster.«
Er zündet sich eine Zigarette an und bietet Vandelli eine an, der ihn feindselig anstarrt.
»Alles, was wir hin und wieder brauchen«, setzt er wieder an, »ist eine Frau, die uns liebt. Bedingungslos. Auch wir lieben sie, klar, aber früher oder später werden wir ihr Schmerz zufügen oder sie betrügen. Das liegt an diesem Leben, das wir führen: Am Ende müssen wir das, was wir lieben, zerstören oder mit uns in den Abgrund reißen.«
Der Verwundete verzieht den Mund.
»Warum erzählst du mir diesen ganzen Schmonzettenscheiß?«
»Ich weiß, dass Nina schwanger ist.«
»Und?«
»Du wirst sie verlieren, sie und das Baby.«
»Bullshit.«
»Du wirst sie verlieren. Ich habe viele wie dich gesehen. Das hält keiner aus. Das Kind wird einen Vater brauchen. Einen, der immer da ist, nicht einen im Knast. Jetzt erzählt Nina dir noch das Gegenteil, sie schwört, dass sie immer dir gehören wird, aber in Wirklichkeit kann sie nicht auf dich warten: Wenn du Glück hast, kommst du in zehn Jahren wieder raus.«
»Sei dir da mal nicht zu sicher, Bulle.«
Der Satz klingt wie eine Kampfansage in Antonios Ohren, der ein eigenartiges Leuchten in den grünen Augen erblickt, das ihn beunruhigt und erschreckt. Es ist ein Omen, die böse Saat dessen, was vier Jahre später
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