Milano Criminale: Roman (German Edition)
Ladeninschrift. Er kennt sie auswendig, denn er starrt sie seit drei Stunden an, doch nun verbinden sich die Lettern in seinem Kopf mit der Idee des Kompagnons. Eine Pelzhandlung, vier hellerleuchtete Schaufenster.
»Was meinst du? Nehmen wir das als Entschädigung?«
Er sieht sich um.
»Los, grad keiner da. Sie stehen alle am Haupteingang und warten auf die Miss.«
»Dann los«, stimmt Janot zu.
Mit zwei Schlagstöcken in der Hand und den Pistolen im Gürtel steigen sie aus.
Die berstenden Schaufenster machen einen Höllenlärm, doch der Applaus der wartenden Menge vor dem Theater übertönt ihn.
Niemand schlägt Alarm, und nach nur zwanzig Minuten sind sie mit einem Kofferraum voller Nerze und Hermelinmänteln längst über alle Berge.
2
Im Laufe der nächsten Wochen festigt sich der Bund zwischen Lampis und Janot. Nach Miss Italias Pelz-Raub – so lauteten die Zeitungsschlagzeilen – landen die zwei noch eine Reihe kleinerer Coups. Manche mit Chantals Unterstützung, wenngleich der Amerikaner verstärkt versucht, sie außen vor zu lassen. Sie soll lieber zu Hause bleiben und ihn bei seiner Rückkehr gebührend empfangen, als eine Kugel in den Kopf zu riskieren.
In letzter Zeit hat sich die Lage im Übrigen entschieden verschärft. Lampis wird nun offiziell gesucht, nachdem er für eine Reihe von Einbrüchen vor ein paar Jahren in den norditalienischen Kleinstädten Crema und Busto Arsizio verurteilt wurde. Die Polente lässt seine Stammlokale nicht aus den Augen, und wenn er nicht wieder in den Knast wandern will, muss er ständig den Wohnsitz wechseln, stets in Begleitung seiner Frau, gegen die vor Gericht zum Glück noch nichts vorliegt.
Oft werden sie von Janot begleitet, und die zwei Männer können während der Umzüge den einen oder andern Coup landen.
Anfangs ist die Flucht erfolgreich. Der Amerikaner ist bei der Polizei noch keine große Nummer. Doch das ändert sich schnell: Diebeszüge wie der in Salsomaggiore ziehen das Interesse der Zeitungen und der Öffentlichkeit auf sich und folglich auch das der Polizei.
Die beiden Gangster tun im Übrigen nichts, um ihren Erfolg zu vertuschen. Im Gegenteil, Säbelrasseln und offene Kampfansagen an die Polizei bestimmen ihr Geschäft.
Mehr als einmal betritt Lampis die Juweliergeschäfte mit einem Blumenstrauß, in dem die Maschinenpistole versteckt ist. Häufig klammern sich die Verkäuferinnen hilfesuchend an ihn, wenn sein Partner mit der Knarre in der Hand hereinstürmt, und werden im Gegenzug von einer gezückten Waffe überrascht.
Solche Geschichten liebt die Presse. Wie an diesem Morgen, als Janot und Lampis bis an die Zähne bewaffnet in eine Mailänder Bank stürmen.
Der Kassenbeamte sieht sie ungerührt an und fragt: »Ihr schon wieder?«
»Was soll das heißen?«
»Wir wurden vor einer Stunde ausgeraubt.«
Später erfahren sie, dass die Cavalieri-Bande ihnen zuvorgekommen ist.
»Was soll ich tun? Das restliche Kleingeld hier in den Sack füllen?«
»Vergiss es. Sem minga di barbùn !«, faucht der Amerikaner.
»Wir kommen wieder«, fügt Janot hinzu.
Die beiden geben nicht auf. Gleichmütig gehen sie hinaus und betreten die Sparkasse nebenan: Am nächsten Morgen sind die Zeitungen voll davon. Die Menschen sind begeistert.
Antonio verfolgt die Berichte bemüht distanziert. Selbst für einen Bullen ist es schwer, nicht mit Lampis zu sympathisieren. Im Mailand dieser Jahre spürt man in den ärmeren Vierteln und Sozialbausiedlungen fast so etwas wie Bewunderung für die Banditen, nicht zuletzt, weil der Amerikaner ein aufrechter Mensch ist, der weiß, wie er die Herzen der Menschen gewinnt. Wenn er beispielsweise eine Bank ausraubt, nimmt er auch die Wechsel mit und vernichtet sie, so dass diejenigen profitieren, die dafür zahlen müssen. Eine Art Robin Hood der sechziger Jahre. Und vielleicht wäre er unter diesem Namen auch bekannt geworden, hätte nicht der Journalist Mario Basile längst einen absolut genialen Spitznamen ersonnen, der für immer an ihm haften bleiben soll.
Alles beginnt morgens früh noch vor Sonnenaufgang.
Nicolosi klingelt bei Antonio Sturm und wirft ihn aus dem Bett. Der Zagato steht mit laufendem Motor vor dem Haus in der Via Osoppo.
»Es geht los«, sagt er nur.
Santis Mutter, mit schlafzerzausten Haaren und hellblauem Morgenmantel, reicht ihrem Sohn auf der Türschwelle noch schnell einen Espresso. Sie sagt nichts, doch an dem Leuchten in ihren Augen erkennt man, wie stolz sie auf ihren Antonio ist,
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