Milano Criminale: Roman (German Edition)
Straßenseite.
Ganz zufällig hat er das Mädchen wiedergetroffen, vor zwei Tagen in der Via Larga. Er und Nicolosi waren kurz einen Kaffee trinken, bevor sie in die Questura zurückkehrten, und sie hatte ein paar Bücher unterm Arm.
»He, Antonio, ciao.« Beim Anblick seiner Uniform hatte sie gelächelt und hinzugefügt: »Dann bist du also Polizist geworden …«
Verlegen hatte er genickt. Er pflegte keinen Kontakt zu seinen alten Schulkameraden, die fast alle an der Uni studierten. Philosophie zum Beispiel, wie sie.
Sie war hübsch. Ein Hauch Lippenstift, ein schöner, voller Busen und lange, kastanienbraune Haare.
»Ruf mich doch mal an«, hatte sie am Ende gesagt.
Nicolosi hatte sich herausgehalten. Doch am Abend dann, als Antonio zusammenpackte, hatte er ihm zugezwinkert.
»Ruf sie an, das Mädchen von heute Morgen, Santi. Tut dir bestimmt gut, auch mal an was anderes zu denken, okay?«
Antonio war ohne Erwiderung gegangen. Nach der Arbeit fühlte er sich immer ganz zerschlagen. Eigentlich hätte er nach seiner Versetzung aus Rom erst einmal eine Weile Streife fahren müssen, doch da er sich bei den ersten Ermittlungen so gut bewährt hatte, hatte Nicolosi sich dafür eingesetzt, ihn zur Kripo zu holen, und dort zehrten die Arbeitszeiten an seinen Kräften. Wenn er nach Hause kam, warf er sich angezogen aufs Bett und schlief augenblicklich ein. Es waren reine Mörderschichten: vierundzwanzig Stunden auf achtundvierzig, das heißt nach einer 24-Stunden-Schicht hatte man zwei Tage frei. Es war quasi unmöglich, an so einem Endlostag immer fit zu bleiben. Abgesehen davon, dass Samstage, Sonntage, Weihnachten und Silvester nicht existierten. Doch Antonio liebte diese intensive Art zu leben: Mailand war eine Stadt, die niemals schlief, und als Bulle hatte er das Gefühl, ihrem innersten Wesen ganz nahe zu sein. Es gefiel ihm so sehr, dass er manchmal sogar zur Arbeit erschien, wenn er frei hatte: Er wollte sehen, was die anderen machten, von ihnen lernen, besser werden.
Der Commissario schien seine Gedanken zu erraten.
»Und wage es ja nicht, dich in den nächsten zwei Tagen hier blicken zu lassen, ist das klar?«, rief er ihm über den Flur hinterher.
Der junge Polizist hatte darüber nachgedacht und sich schließlich entschlossen, sie anzurufen und zum Essen einzuladen.
Jetzt hämmert ihm das Herz bis zum Hals. Er hat ein Geschenk für sie gekauft, einen Gedichtband: Le cimitière marin, Der Friedhof am Meer , auf Französisch ohne Übersetzung, da die junge Frau die Sprache perfekt beherrscht. Außerdem würde man dem Dichter Unrecht tun, wollte man versuchen »Le vent se lève … Il faut tenter de vivre!« zu übersetzen.
Es ist sein Lieblingswerk von Paul Valéry, und er musste in einigen Buchhandlungen nachfragen, um es zu finden.
Er klingelt an der Haustür und zündet sich eine Zigarette an, um dahinter seine Nervosität zu verstecken. Lächelnd tritt sie aus dem Haus.
Antonio hat sich nie zuvor gefragt, was Liebe auf den ersten Blick bedeutet. Es war nicht nötig, denn wenn es passiert, weiß man es. Und an diesem Abend, in diesem einen Moment auf dem eisigen Bürgersteig, als die Haustür aufgeht, ist ihm sonnenklar, was der Ausdruck besagt: die Lust, alles stehen und liegen zu lassen, weil sie da ist. Nur sie, jetzt.
Antonio findet sie wunderschön in ihrem langen Kleid und mit den Haaren, die ihr auf einer Seite ins Gesicht fallen.
Er lächelt zurück, während eine Straßenbahn das Dunkel um sie herum in grünes Licht taucht.
4
Commissario Nicolosi hat sich mit Stecknadeln ein Foto von Lampis an die Wand hinter seinem Schreibtisch gepinnt. Es ist ein Fahndungsfoto in Schwarzweiß, und der Kriminelle blickt den Betrachter mit unverhohlener Frechheit an. Es wirkt wie eine ständige Mahnung: Die Männer von der Kripo haben ihr Ziel nun klar vor Augen. Die Jagd auf den Solisten an der Maschinenpistole ist offiziell eröffnet.
Seit er ihnen um Haaresbreite entwischt ist, gibt Nicolosi keine Ruhe mehr. Er muss ihn schnappen, doch es wird nicht leicht sein, denn sein Gegenspieler scheint mit offenen Augen zu schlafen und ständig auf der Hut zu sein, außerdem sucht er sich seine Verstecke sorgfältig aus, bevorzugt Wohnungen, aus denen man durch ein Fenster oder eine Hintertür flüchten kann. Genau wie beim letzten Mal, als sie ihm dicht auf den Fersen waren: Bei der Rekonstruktion des Geschehens wurde ihnen klar, dass der Flüchtige gerade erst aus einem Nachtclub zurückgekehrt war,
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