Milano Criminale: Roman (German Edition)
liegt über der Innenstadt ein einziger, alles beherrschender Gestank, der stickige Smog von langen Kolonnen aus Spähpanzern und grünen Polizei-Mannschaftswagen, die sich mit lärmendem Getöse auf der Via Chiaravalle und der Via Festa del Perdono vor der Universität zusammenziehen. Santi und Martinez gehören zu den Ersten, die aussteigen; die Studentenproteste an der staatlichen Universität haben ihren Höhepunkt erreicht. Antonio hat die Nase gestrichen voll von Demonstrationen, Protestmärschen, Kampfreden und Slogans. Er sehnt sich nach den Zeiten zurück, als er noch Jagd auf richtige Verbrecher machen durfte, nach den Marseillern zum Beispiel, nach Lampis und sogar nach Cavalieri.
Als sie ausgestiegen sind, instruiert Cimmino die Einsatzkräfte über das weitere Vorgehen.
»Ihr neuester Einfall ist die Gerichtsverhandlung, mannaggia ’o pataturco! Sie wollen einem Professor, den sie in Aula 208 gefangen halten, den Prozess machen.«
Auf der Motorhaube eines Jeeps entrollt er den Grundriss des Gebäudes. Er deutet auf einen Raum.
»Wir gehen hier entlang und treiben sie mit Tränengas raus. Alles klar?«
Jemand nickt.
»Wer hat uns gerufen?«, fragt Santi.
»Glücklicherweise sind nicht alle Studenten Kommunisten«, erwidert der Vorgesetzte knapp. »Los jetzt.«
Die Militärs laufen zum Eingang. Die Zeit drängt, denn in Aula 208 setzt Castelli schon als selbstberufener Staatsanwalt zum Schlussplädoyer an, und keiner weiß, was danach passieren wird. Die ganze Chose ist dermaßen eskaliert, nachdem ein Professor für Zivilrecht, Mauro Marchi, das Studienbuch eines durchgefallenen Studenten einbehalten hat und ihn so daran hinderte, den zweiten Prüfungstermin wahrzunehmen. Der Zwischenfall hat die Studentenbewegung auf den Plan gerufen, die kurzerhand beschloss, den Lehrkörper festzunehmen und ihm direkt vor Ort den Prozess zu machen.
Dabei ist das Ganze eine Farce, was auch die Studenten wissen, da der Professor sich lediglich an die Vorschriften gehalten hat. Das Problem dabei ist, dass er sich so offen gegen die erklärte Forderung der Bewegung gestellt hat, das Studienbuch zurückzugeben – wie es viele ›progressive‹ Professoren bereits tun –, um so dem Prüfling die Teilnahme an einer Nachprüfung noch im selben Studienjahr zu ermöglichen. Nun sitzt Marchi mit gesenktem Blick da und schweigt, ein Gefangener seiner Prüflinge, und fragt sich, ob er hier je wieder heil herauskommt und ob es die Sache wert war. Während die Polizei die Erstürmung vorbereitet.
Antonio zurrt das Kinnband an seinem Helm fest und überlegt, was Carla wohl dazu sagt, wenn er ihr alles erzählt. Eigentlich braucht es wenig Phantasie: Sie wird sich auf die Seite der Studenten schlagen und behaupten, Selektion und Leistungsprinzip seien Feinde, die es zu bekämpfen gilt.
»Bücherwissen muss stigmatisiert werden«, doziert Castelli gerade, als ihm die erste Tränengaspatrone vor die Füße rollt. Die zweite trifft ihn fast am Kopf. Der Professor, allein unter Studenten, seufzt erleichtert auf – in dem sicheren Wissen, dass es zu keiner Urteilsverkündung mehr kommen wird.
Innerhalb weniger Sekunden ist die Aula voll mit Rauch. Die Bullen postieren sich auf der einen Seite des Flurs, Gasmasken vor den Gesichtern und die Schlagstöcke einsatzbereit, die andere Seite bleibt frei.
»Warum tun wir das?«, fragt ein Beamter, der zur Verstärkung in Mailand ist. »Sollten wir sie nicht lieber einkreisen?«
»Fluchtweg«, erklärt ihm Santi. »Man muss immer einen Fluchtweg offen lassen, sonst kann es böse enden.«
Antonio hatte viel von Cimmino gelernt.
»Sient’ammè« , hatte der Neapolitaner ihm in einer ähnlichen Situation gesagt, »man muss diesen strunz ’e merda immer die Chance geben, sich zu verdrücken, sonst kippt die Sache. Sie müssen sich verziehen können, ohne in eine Falle zu laufen.«
Santi hatte genickt, das ergab alles Sinn. Die Studenten ausweglos in die Enge zu treiben, würde nur zur Eskalation führen; sich etwas abseits zu halten hingegen kann in vielen Fällen die Lage entscheidend entspannen.
Die Studenten haben die Aula bereits verlassen. Nach Atem ringend, mit tränenden Augen und hustengeschüttelt wollen sie immer noch ihre Missbilligung ausdrücken, indem sie die üblichen Parolen rufen: »Bullen sind Sklaven des Kapitals!« und die ganze Palette.
»Möglichst nicht zuschlagen«, schließt Antonio. »Obwohl es einem manchmal so richtig in den Fingern juckt …«
An
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