Milano Criminale: Roman (German Edition)
sagt Nina entschieden.
Die vier erheben sich, doch es ist gar nicht so leicht, sich zum Ausgang durchzudrängen. Auf der einen Seite steht die Carabinieri-Front, auf der anderen die Studenten, die mit allem werfen, was sie in die Finger bekommen. Auch auf sie.
Ein Molotowcocktail explodiert einen Schritt neben Ninas Fuß, die sofort anfängt zu schreien. Nun scheint sogar der Eiszapfen Angie aufgeschreckt.
Die Carabinieri-Einheit beschließt, zum Gegenangriff überzugehen, und bewegt sich mit gesenkten Köpfen und erhobenen Schlagstöcken voran.
Pietra fühlt sich schwindelig. Er würde die ganzen Arschlöcher am liebsten umbringen, die Bullerei ebenso wie die verwöhnten Gören. Unterschiedslos. Und das ist nicht nur so dahergesagt: Es wäre gewiss nicht sein erster Mord. Schwierige Kindheit in der Comasina. Vater brutaler Schläger und oft im Zuchthaus, Armut mit allem, was dazugehört: die übliche Geschichte. Probleme löste er schon bald, indem er alle tötete, die sich ihm in den Weg stellten. Dreimal bereits, wenn man genau hinsah, Prestiné eingeschlossen. Der Einzige, für den er bezahlt worden war. Die anderen hatte er gratis abgezogen, einfach so, um sie sich vom Hals zu schaffen.
Das Gefecht, in dem er sich nun wiederfindet, ist aber auch für ihn eine neue Erfahrung, und verwirrt reagiert er auf die einzige ihm bekannte Art: Er zieht seine Knarre aus der Tasche und ballert auf gut Glück um sich.
»Was zum Teufel tust du?«, schreit Vandelli und packt ihn am Kragen. »Pack die Kanone weg, wir verschwinden hier.«
Eine halbe Stunde später sitzen sie im Auto nach Mailand. Als es Mitternacht schlägt, sagt keiner ein Wort.
Im Radio hören sie die Nachricht von den Zusammenstößen in der Bussola, die Carabinieri seien »gezwungen gewesen, das Feuer auf die Demonstranten zu eröffnen«, und hätten einen von ihnen schwer verletzt – er wird für immer gelähmt sein, wie man später erfährt –, außerdem mehr als fünfzig festgenommen.
»Hast du das gehört?«, lacht Pietra. »Die Arschlöcher glauben, die Bullen hätten zuerst geschossen.«
Vandelli erwidert nichts, er fährt und raucht. Auch Nina und Angie schweigen, als wären sie gar nicht da. Bis zur Mautstation an der Mailänder Autobahnausfahrt, wo Angie sich aufsetzt und ausruft: »Was für ein elendes Scheißsilvester!«
Roberto hebt den Mittelfinger in ihre Richtung. Er hat die ganze Fahrt über geschwiegen und an anderes gedacht. Pietras Kugel wird alles verändern. Er kann es jetzt noch nicht wissen, doch einige Jahre später wird der mit dem Fall betraute Richter nach einem extrem schwierigen Ermittlungsverfahren feststellen, dass die Kugel nicht aus Richtung der Carabinieri geflogen sein konnte …
Doch Vandelli ist kein Wahrsager, sondern Pragmatiker. Was er genau weiß, ebenso wie am nächsten Morgen Santi – der gerade mit seinen Eltern, seiner Frau und dem Bruder feiert – und ebenso wie Cimmino es vorhersagen wird – der zurzeit in den Himmel über Neapel starrt, in dem das Feuerwerk explodiert –, ist, dass dieser 31. Dezember 1968 das Blatt wenden wird. Zum ersten Mal haben die Ordnungskräfte auf Studenten geschossen, und alle drei fürchten, dass das im neuen Jahr, auf das sie gerade anstoßen, immer häufiger geschehen wird.
DRITTER TEIL
ROTE STADT
Kata-kata-katanga!
1
Der Frühling zu Füßen der Madonnina, zwischen den Stahlvolten der Galleria und über dem Kopfsteinpflaster von Brera, über den kiesbedeckten Innenhöfen des Schlosses und um die Kolonnaden der Piazza dei Mercanti, dieser Frühling bringt nicht nur einen Duft mit sich, sondern Hunderte. Vor den offenen Auslagen der Bäckereien schweben die durchdringende Würze von Kräutern und der satte Duft nach frisch gebackenem Brot, aus den Bars strömt das intensive Aroma von frisch gemahlenem Kaffee und aus den Töpfen der Restaurants eine Ahnung von köchelndem Risotto. Aus den Milchwarenläden steigt den Passanten der weiche Duft warmer Gemüsetartes in die Nase, die als Mittagsimbiss für die Angestellten zubereitet wurden, um gleich darauf von dem Lavendelhauch aus den offenen Fenstern und Balkonen der Wohnungen verdrängt zu werden, wo die frisch gewaschene Wäsche zum Trocknen hängt. Das sind die Tage, an denen Mailand die Kälte des Winters abschüttelt, das eisige, nach Kohle riechende Nass, das sich in die Knochen gefressen hat, und die ganze Stadt atmet erleichtert all die Frühlingsdüfte ein.
Nicht so jedoch an diesem Morgen, heute
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