Milas Lied
verstreut. Jeder Tisch war mit einem Kaktus dekoriert, auf dessen Töpfchen die Aufschrift »Blockade-Gesteck« prangte.
»Das verstehe ich nicht ganz«, sagte Mila. »Was bedeutet ›Blockade-Gesteck‹?«
»Das ist ein Witz, glaube ich.« Fasziniert beobachtete ich, wie Milas linker Zeigefinger über die Stacheln tanzte. »Hier gab’s letztes Jahr ’ne große Demo gegen einen Naziaufmarsch, vor vier Monaten oder so«, erklärte ich. »Die Demonstranten saßen auf der Straße und haben den Nazis den Weg versperrt. Da gab’s in vielen Kneipen das ›Blockade-Gedeck‹.«
Mila sah mich noch immer fragend an.
»Eine Tasse Tee und ’ne Linsensuppe. Zum Aufwärmen.«
Mila lachte. Dann bohrte sie ihren Finger in einen Stachel, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Vielleicht solltest du es mal als Finger-Fakir versuchen«, schlug ich vor.
»Der Finger-Fakir besorgt uns jetzt mal etwas zu trinken«, sagte Mila. »Hast du Lust auf ein Glas Rotwein?«
Ich nickte.
Mila stand auf und ging zur Bar. Nachdem sie mit dem Typ dahinter geplaudert hatte, kam sie strahlend an unseren Tisch zurück, jedoch ohne Getränke. Stattdessen bückte sie sich nach ihrem Gitarrenkoffer und holte Werner hervor. Der Typ hinter der Bar machte die Musik aus und ließ Mila singen.
Anetschka schickte immer…
Anetschka schickte immer mich auf den Baum. Anetschka war eben ein Angsthase. Und ich ein Trotzkopf. Meine Schwester wusste, dass Babulja jedes Mal schimpfte, wenn wir in ihren Kirschbäumen räuberten. Ich wusste das auch. Aber die prallen, roten Früchte waren einfach zu verlockend, um sich an Regeln zu halten. So ist es mit dem Leben. Es schenkt dir süße Kirschen, wenn du frech bist.
Ich fiel vom Ast und brach mir das Bein. Ich habe nicht geweint. Keine Sekunde. Anetschka schon. Ich fand das alles gar nicht so schlimm. Nur der Gips war lästig. Ich schwitzte darunter und konnte mich nicht kratzen. Nicht einmal die Füße konnte ich baumeln lassen in den Don, den schönen kühlen. Und der Sommer war so heiß!
Ich sehne mich nach Sommer. Ich sehne mich nach dem Duft überreifer Erdbeeren. Nach Anetschka. Nach Babulja. Ich sehne mich nach ihrem Garten, der nun verwildert. Hier verwildert nichts. Nicht einmal die Gedanken.
Mila kam spielend…
Mila kam spielend zurück zu mir und sah mich auffordernd an. Ich verstand nicht, was sie von mir wollte, doch dann sah ich ihre Wollmütze auf dem Tisch liegen. Mila nickte. Sie wollte, dass ich herumging und Geld einsammelte. Ich schüttelte den Kopf, aber Mila nickte wieder und so ging es eine Weile zwischen uns hin und her. Mila umrundete unseren Tisch und ging in den hinteren Teil der Kneipe, wo noch ein paar Leute saßen. Für sie war die Diskussion damit wohl beendet. Ich sah das vollkommen anders. Ich war doch keine Bettlerin! Im nächsten Moment erschrak ich über diesen Gedanken, weil ich das Gefühl hatte, Mila damit zu beleidigen. Mila war keine Bettlerin. Sie war alles andere als das. Mila war stolz und begabt und rastlos. Eine trällernde, fleißige, wunderschöne Hippiebraut.
Ich wusste, dass es sie kränken würde, wenn ich sitzen blieb. Also stand ich auf, obwohl mir das Herz bis zum Hals schlug und ich mich unbehaglich fühlte. Ich nahm die Mütze und ging langsam zu einem der Tische, an dem zwei Mädchen saßen. Ich hatte das Kleingeld neben dem Blockade-Kaktus liegen sehen und hoffte, dass es für Milas Mütze bestimmt war. Ich wollte niemanden in Verlegenheit bringen, der nichts geben wollte. Zum Glück hatte ich mich nicht verschätzt. Lächelnd warf eines der Mädchen die Münzen in die Mütze. Ich bedankte mich kaum hörbar und ging zum nächsten Tisch. Mit jedem Mal wurde es leichter und die Mütze schwerer. Mila warf mir einen Blick über die Schulter zu und lächelte.
Ich erzählte Mila von meinem Studium und von Mimi und auch von Hannah. Fast hätte ich ihr sogar von meinem sehr besonderen Verhältnis zu Fischen erzählt. Ich entschied jedoch, dass es noch nicht der richtige Zeitpunkt war, um über Fische zu rede n – obwohl Milas stille Neugier durchaus verlockend war. Wenn es denn Neugier war. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Milas Gedanken gelegentlich abschweiften. Ich versuchte, sie wieder einzufangen.
»Worum ging es in dem Lied, das du gerade gesungen hast?«, fragte ich.
»Um Kirschen.«
»Kirschen?«
»Es ist ein altes Sommerlied. Ich habe es schon mit Sokoly gesungen. Na ja, ich habe es etwas umgeschriebe n …«
»Es klang ziemlich
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