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Milas Lied

Milas Lied

Titel: Milas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Keil
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berühren. Ich bedeckte die Elfe mit der Hand. »Das ist eine lange Geschichte.«
    »Erzählst du sie mir?«
    »Lieber nicht.«
    »Na gut.« Mila lehnte sich wieder zurück und schloss die Augen.
    Mein Herzschlag war so heftig, dass ich Angst hatte, er könnte in kleinen Wellen zu ihr hinüberschwappen. Und die Stelle, an der sie mich berührt hatte, wollte einfach nicht aufhören zu kribbeln.

Über den dicken…
    Über den dicken Teppich ranken Kabel. An den Wänden: Eierschachteln. An der Decke: Eierschachteln. Ein paar sind silbern angemalt. Kein Fenster. Die einzige Lichtquelle ist eine alte Stehlampe mit großem orangefarbenem Schirm. So eine ähnliche hatte Babulja auch. Mit rotem Stickmuster.
    Meine Ohren sind schon ganz heiß. Ich höre mich selbst atmen. Über die Kopfhörer schickt Linus eine leise Melodie zu mir herüber, irgendwelche elektronischen Sounds, vorhin sind sie in bunten Linien über den Monitor gezuckt, es sah aus wie beim Arzt. Jeder Sound hat seine eigene Linie, man kann sie beliebig kombinieren, verschieben, verfremden. Linus hat es mir gezeigt. Die Linien sind seine Musik. Meine Stimme wird auch so eine Linie. Aber davon verstehe ich nichts.
    Linus’ Stimme ertönt über den Kopfhörer. Er will, dass ich mal was singe.
    Ich sage vorsichtig: »Hallo, Linus.« Meine Stimme klingt seltsam über Kopfhöre r – so tief, so klar, so nah, ich spüre meine Worte nicht mehr zuerst im Hals und dann auf den Lippen, sondern direkt in meinem Kopf. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, meine Stimme nicht zu beherrschen. Ich merke, was für ein schwieriges Instrument sie ist, als hätte sie hundert Saiten.
    »Sing mal was, und danach schauen wir, wie laut du den Sound brauchst.«
    Ich beginne leise zu summen. Dann ein wenig lauter. Ich schließe die Augen und werde sicherer. Mein Instrument beginnt mir zu gehorchen, aber in dieser absoluten Stille klingt es trotzdem fremd. Die Eierschachteln schirmen alles ab, mich vor der Welt, die Welt vor mir. Nicht das leiseste Rauschen, Knistern, Knacken, kein Gemurmel, keine Pfiffe, keine zerschellenden Glasflaschen. Bei den Aufnahmen mit Sokoly im Proberaum ist immer etwas zu Bruch gegangen. Oder jemand kam zur Tür rein oder warf den Mikrofonständer um oder es gab irgendeine gigantische Rückkopplung. Auf einer Aufnahme hörte man am Ende eines Liedes sogar die Vögel zwitschern. Es war morgens um fünf. Manchmal hatten wir einfach die Zeit vergessen.
    Aber war meine Stimme schon jemals das einzige Geräusch auf der Welt gewesen?

Es war unmöglich…
    Es war unmöglich, in dieser S-Bahn auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Das Buch auf meinem Schoß, nach Aussage meines Lieblingsdozenten Matuschke Pflichtlektüre für jeden Soziologen, war ganz sicher nicht in öffentlichen Verkehrsmitteln geschrieben worden. Durch das gekippte Fenster schräg über mir wehte etwas herein, was alles Mögliche, nur keinen Sauerstoff enthielt, und eine Reihe vor mir brüllte ein Baby, wahrscheinlich bekam es gerade Zähne. Der Lautstärke seines Geplärrs nach zu urteilen mindestens fünf pro Haltestelle. Mein Sitznachbar, ein älterer Herr mit krausem, grauem Haar, war ohne jeden Zweifel schon vor Längerem an den Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens gescheitert. Zumindest trug er bei kuscheligen 2 0 Grad einen löchrigen schwarzen Trenchcoat, war geschminkt wie Batmans Joker und versuchte, sein Gegenüber in ein Gespräch über potenzsteigernde Mittel zu verwickel n – was ihm nicht gelang. Was Pierre Bourdieu, der Autor meines Buches, ihn wohl gefragt hätte? Ich hatte ja gelernt, dass ich als Soziologin jedem Menschen mit herzlicher Neugier und Unvoreingenommenheit begegnen sollte. Manchmal überforderte mich diese Aufgabe.
    Ich stopfte das schlaue Buch zurück in meine Tasche und dachte darüber nach, dem Chefredakteur unserer Uni-Zeitung eine monatliche Kolumne über meine S-Bahn-Linie vorzuschlagen. Die Redaktion brauchte dringend Verstärkung, hatte sie jedenfalls in einer der letzten Ausgaben behauptet. Vielleicht brauchten die ja sogar dringend ein Landei?
    Mila?!, dachte ich plötzlich. Stand da nicht Mila? Die S-Bahn hielt und mein Herzschlag setzte für ein paar Sekunden aus. Mir wurde eiskalt und dann wieder ganz warm. Eine leuchtend gelbe Tasche brannte sich in meine Netzhaut. Diese Tasche! Hatte ich nicht genau so eine Tasche schon mal an Mila gesehen? Das dunkelhaarige Mädchen verschwand hinter einem Fahrplanständer und ich sah nur noch

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