Milas Lied
melancholisch. Gar nicht punkig.«
»Vielleicht sollte ich es nicht mehr singen. Ich finde, es passt nicht mehr zu mir. Es fühlt sich an wie ein Kleid, aus dem ich rausgewachsen bin.« Milas Finger tanzten wieder über den Kaktus. »Aber an Tagen wie diesen tut es gut, an Kirschen zu denken. Findest du nicht?«
»H m … Was hast du denn jetzt eigentlich vor?«, fragte ich. »Musst d u … ich meine, willst du irgendwann wieder zurück? Nach Rostow?« Ich sagte ganz bewusst nicht »nach Hause«.
»Und die Chancen wegwerfen, die ich hier habe?«, entgegnete Mila. »Hier gibt es alles, was ich brauche, um so zu leben, wie ich will. Musiker, Bühnen und Geld.«
»Die WG, in der du wohns t …«
»Ich werde da so bald wie möglich ausziehen. Ich passe dort nicht hin.«
»Weil es faule Hippies sind?«
»Weil sie das alles nicht ernst nehmen. Weil sie so viele andere Möglichkeiten haben. Sie sind Musiker, weil sie gerade Lust darauf haben. Ich singe, weil ich gar nicht anders kann, und nicht, weil es gerade schick ist, mit einem Instrument unter dem Arm durch die Gegend zu laufen.«
Ihre Worte klangen trotzig, kämpferisch und zugleich unendlich abgeklärt.
»Verstehe.« Ich war fasziniert, ja fast ein bisschen erschrocken darüber, dass Mila schon so genau wusste, was sie wollt e – oder musste. Die Unausweichlichkeit ihres Plans machte mir auch ein wenig Angst.
Ich fragte mich, wofür ich eigentlich bestimmt war. Die Stille in mir, die auf diese Frage folgte, ernüchterte mich. Ich wusste nicht, wer ich war oder werden musste. War das schlimm? Und wenn es schlimm war, wer war schuld daran? Meine Eltern? Die Lehrer? Ich? Oder hatte man schlichtweg vergessen, mir ein Talent in die Wiege zu legen, das mir den Weg leuchtete? Oder war auch ich zu etwas bestimmt und hatte es nur noch nicht gemerkt?
»Ich glaube, der Wein haut ganz schön rein«, sagte ich.
»Frische Luft?«, fragte Mila und wischte sich ein paar Glitzerherzchen vom Ärmel. Das war ziemlich sinnlos, denn die Herzchen auf der Tischplatte waren eindeutig in der Überzahl und sehr anhänglich.
»Oh ja!«, rief ich. »Und dazu ’ne fettige Schawarma.«
»Mit ganz viel Knoblauchsoße.«
»Kannst du Gedanken lesen?«
Selten hatte ich jemanden mit so viel Hingabe, mit solch zärtlichem Appetit essen sehen. Mir schmeckte es auch sehr gut, allerdings sah ich dabei weniger dekorativ aus als Mila. Fatih, oder wie dieser Typ im Imbiss hieß, sollte Plakate von ihr drucken lassen. Überlebensgroß. Mila schien nämlich nicht nur Stammgast in seinem Laden zu sein, sie war auch der lebende Beweis dafür, dass Essen zutiefst glücklich macht.
Nach einer Tasse Tee schlängelten wir uns zwischen Schneepfützen hindurch zurück zur U-Bahn-Station.
Ein kalter Wind wehte uns entgegen und blies die Wärme fort, die wir im Imbiss getankt hatten. Am Treppenaufgang zur U-Bahn blieben wir stehen. Von Milas Gesicht war außer einer nassen roten Nase kaum noch etwas zu sehen. Sie hatte sich ihre Wollmütze tief in die Stirn gezogen und der Schal verdeckte ihren Mund. Ich sah in der Wolle ihres Schals etwas glitzern und erkannte, dass es ein kleines Herz war. Wahrscheinlich hatten wir eine Spur aus roten Glitzerherzchen gelegt, seit wir die Kneipe verlassen hatten. Jetzt musste nur noch ein fährtenkundiger Traumprinz auf einem weißen Pferd kommen und uns retten. Vor der bösen Winterhexe.
»Das war ein schöner Valentinstag«, sagte ich glücklich, satt und fröstelnd und ließ das kleine Herz, wo es war.
»J a … sehr schön.«
Ich trat etwas unbeholfen von einem Bein aufs andere. Ich fand es noch immer kompliziert, mich von Mila zu verabschieden. »Mach’s gut«, sagte ich schließlich. »Und lass dich nicht ärgern von den faulen Hippies.«
»Ja.« Mila grinste, das sah ich in ihren Augenwinkeln. »Aber eigentlic h … eigentlich habe ich noch gar keine Lust, nach Hause zu gehen«, kam es gedämpft hinter dem Schal hervor. »Wollen wir noch einen Tee bei dir trinken?«
»Na klar! Gern!«
Wir stiegen die glitschigen Stufen zum Bahnsteig hinauf. Mein Herz hüpfte bei jeder Stufe und ich hoffte, dass noch genügend Herzchen in unseren Klamotten hingen für eine Spur bis zu meinem warmen Kachelofen. Der Prinz konnte sich gern noch ein paar Stündchen Zeit lassen.
Ich drehte den Schlüssel im Schloss und stellte erleichtert fest, dass Theo nicht zu Hause war. Doch meine Freude darüber währte nur kurz, denn als ich in mein Zimmer kam, war sofort klar, dass
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