Milchbart (German Edition)
herum.
Fanni zerlegte ihre Forelle. Sie wollte abwarten, wollte lieber Alexander weitermachen lassen. Würde er auf die Zeitspanne zu sprechen kommen, die sie allein mit der Toten, oder – falls man ihre Aussage anzweifeln wollte – mit der noch Lebenden zugebracht hatte?
Sie musste sich nicht lange gedulden.
»Ich bin nicht vor zehn Uhr zwanzig ins Sprechzimmer zurückgekehrt«, sagte er.
Es gab keinen Grund, Alexanders Zeitangaben in Frage zu stellen. In den Therapiezimmern, ebenso wie im Foyer und in den Übergängen von den Treppenabsätzen zu den Stockwerken, befanden sich Wanduhren in Glaskunstdesign mit Zifferblättern so groß wie Tortenplatten. Man kam gar nicht umhin, regelmäßig die genaue Uhrzeit abzulesen.
»Den Notruf habe ich um zehn Uhr vierundzwanzig abgesetzt.« Alexander legte sein Besteck beiseite.
Nun red schon! Du kommst ja eh nicht drum herum!
Fanni hörte ebenfalls auf zu essen. Sie tupfte sich mit der Serviette den Mund ab, trank einen Schluck von ihrem Mineralwasser und lehnte sich zurück. Dann begann sie zu sprechen.
Sie schilderte Alexander, wie sie sich im Flur an die Wand gelehnt und vor sich hin sinniert hatte; wie sie irgendwann an die Tür geklopft, aber keine Aufforderung zum Eintreten vernommen hatte; wie sie letztendlich einfach geöffnet und ins Zimmer gegangen war; wie sie dagestanden und Frau Bogner angestarrt hatte; wie ihr auf einmal der Gedanke gekommen war, die Therapeutin würde ihr eine Schlüsselszene vorspielen; wie sie sich an den Schreibtisch gelehnt und mit der Toten geredet hatte. »Als Sie hereingekommen sind, ist der Stuhl, in dem Frau Bogner saß, gerade ein wenig herumgeschwenkt. Es hat ganz so ausgesehen, als würde sie sich mir zuwenden.«
»Verstehe«, sagte Alexander mit betont neutraler Stimme. »Damit wäre also die Verzögerung geklärt.«
Er hält dich für meschugge, damit du es nur weißt!
Mit Recht, dachte Fanni. Mit vollem Recht.
Alexander räusperte sich: »Nachdem nun ein für alle Mal gesagt ist, dass weder Sie noch ich Frau Bogner getötet haben, muss eine dritte Person im Zimmer gewesen sein.«
Und die hatte sich einen Tarnumhang übergestülpt oder was?
»Aber wie kann diese Person ungesehen hinein- und ebenso wieder hinausgekommen sein?«, fragte er bereits. »Durchs Fenster bestimmt nicht, das ist von außen vergittert.«
»Das ist ja unser Problem«, erwiderte Fanni. »Niemand kann ungesehen hinein- und hinausgekommen sein. Der Flur verläuft schnurgerade. Als ich von der Treppe her gekommen bin, habe ich Sie aus der Tür treten sehen. Wir beide hatten uns – lange bevor wir in der Mitte des Ganges zusammengetroffen sind – schon gegenseitig im Blick, und ich hatte zudem die ganze Zeit die Tür im Blick. Nachdem Sie herausgekommen sind, Alexander, ist ganz bestimmt niemand zu Frau Bogner hineingegangen.«
Alexander machte ein bekümmertes Gesicht. »Ich weiß.«
Fanni sah ihn überrascht an. »Wie können Sie das denn wissen? Als Sie den Flur entlanggegangen sind, haben Sie doch die Tür zu Frau Bogners Zimmer im Rücken gehabt.«
Alexander verzog die Mundwinkel zu einem leicht spöttischen Lächeln. »Abgesehen davon, dass Sie längst erwähnt hätten, wenn jemand herumgestrolcht wäre, hätte ich das aller Wahrscheinlichkeit nach gemerkt. Ich hab ja nicht nur Augen, sondern auch Ohren.«
»Gut«, sagte Fanni, »Ihnen haben es die Ohren verraten, mir die Augen: Außer uns beiden war niemand auf dem Flur.«
»Logische Folgerung«, übernahm Alexander wieder, »der Täter muss von woanders her in Frau Bogners Behandlungsraum gelangt sein.«
»Wie denn?«, fragte Fanni missmutig. »Es gibt keine zweite Tür im Zimmer, und vor dem Fenster ist – wie Sie schon sagten – ein gewölbtes Gitter aus Schmiedeeisen angebracht, durch das sich gerade mal ein Eichhörnchen zwängen könnte.«
»Womit wir wieder zu dem Resultat kommen, dass nach allem Dafürhalten einer von uns beiden der Täter sein muss«, entgegnete Alexander.
»Na, na«, rief Schwester Rosa, »heute ist es aber nicht weit her mit unserem Appetit.« Geradezu bekümmert sah sie den beiden noch halb vollen Tellern nach, die das Mädchen mit dem Piercing soeben wegtrug. »Aber die Nachspeise müssen wir unbedingt essen. Es gibt Panna cotta mit Erdbeeren.« Sie leckte sich die Lippen.
Gollum hat wohl schon eine verspeist!
Die beiden Desserts kamen auf den Tisch und blieben vorerst unangetastet stehen.
Hast du vergessen, wie gern du Panna cotta
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