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Milchbart (German Edition)

Milchbart (German Edition)

Titel: Milchbart (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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eigentlich klar, Fanni Rot, dass dich Alexander siezt, während du ihn duzt?
    Wieso, wandte Fanni ein, er sagt doch immer: Darf ich dich angrapschen.
    Schon, aber im normalen Gespräch siezt er dich! Du solltest wirklich darüber nachdenken, ob es angebracht ist, ihn zu duzen, als wäre er ein kleiner Junge!
    Bevor Fanni das tun konnte, sagte Alexander unvermittelt: »Es begann, als ich fünf war. Meine Pflegemutter hat mich gezwungen, sie und die Damen, die sie in ihr Haus einlud, zu umarmen und zu küssen und …« Er verstummte.
    Fanni fasste schnell nach seiner Hand, die neben dem Gedeck lag. »Es tut mir leid, dass ich vorhin so indiskret war. Ihre psychische Störung geht mich nichts an.«
    »Doch«, widersprach Alexander. »Wir müssen einander vertrauen können, das ist jetzt enorm wichtig, und deshalb müssen Sie wissen, woran Sie mit mir sind.«
    »Nun weiß ich es«, erwiderte Fanni.
    Aber Alexander schien der Ansicht zu sein, dass sie noch nicht genügend informiert war. Tapfer sagte er: »Irgendwann konnte ich nicht mehr anders, als alle Frauen zu umarmen, die ungefähr im Alter meiner Pflegemutter waren. Auf unerklärliche Weise hatte sich mir die Möglichkeit zu differenzieren entzogen. Die Folge davon war, dass ich eine Zeit lang in eine Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie eingewiesen werden musste. Aber auch nach meiner Entlassung aus der stationären Behandlung hatte ich immer wieder Therapien nötig. Zum Glück hat mir meine Pflegemutter genügend Geld hinterlassen, sodass ich mir spezielle therapeutische Behandlungen in Privatkliniken leisten konnte, die mal mehr, mal weniger Erfolg hatten. Marita Bogner allerdings hat damit einen Durchbruch erzielt, die Zwangshandlung – als Zwischenschritt quasi – durch eine Zwangsfrage zu ersetzen.«
    Alexander sah Fanni prüfend an. »Ich weiß, was Sie jetzt denken: Hätte die Frage nicht seriöser formuliert sein können? Darüber haben wir lange debattiert, Frau Bogner und ich. Aber letztendlich habe ich mich dafür entschieden, sie wie einen Witz klingen zu lassen. Vielleicht war es ja falsch. Wie auch immer, jetzt bin ich fast am Ziel. Es geht nun nur noch darum, diese beiden Krücken wegzuwerfen: die Zwangsfrage und den Talisman.«
    »Den Talisman, denke ich, können Sie getrost behalten«, meinte Fanni.
    »Er ist aber weg«, sagte Alexander.
    »Ja, ich weiß«, erwiderte Fanni. »Deshalb sind Sie ja in Frau Bogners Sprechzimmer zurückgekommen.«
    Alexander nickte. »Die Polizei wird ihn dort wohl inzwischen gefunden haben.«
    Anzunehmen! Und das bringt uns wieder zurück zu der Bredouille, in der ihr beide steckt!
    Ein junges Mädchen, das Fanni zuvor noch nie gesehen hatte, räumte die leeren Teller ab. Sie hatte im rechten Nasenflügel ein Piercing, und Fanni registrierte, dass ihre Fingernägel lila lackiert und mit Glitzersteinen beklebt waren.
    Alexander musterte das Mädchen schweigend.
    Aha, die muss er nicht fragen! Ist ja auch noch keine zwanzig, das Kind!
    Am Tisch blieb es still, bis das Hauptgericht kam. Angesichts der gedünsteten Forelle auf seinem Teller sagte Alexander: »Meine DNS und Fasern von meiner Kleidung werden massenhaft auf Frau Bogners Leiche zu finden sein.«
    »Sie haben sie ja auch angegrapscht«, erwiderte Fanni trocken, aber mit einer Spur Vorwurf in der Stimme.
    »Ein Fehler«, gab Alexander zu. »Ein schwerer Fehler – eine Überreaktion, ein alter Reflex, ein fataler Rückfall, was weiß ich. Aber Sie können ja bezeugen, dass Frau Bogner schon tot war, als ich zurückkam.«
    Und als du gegangen bist, Junge?
    Fanni zuckte zusammen, weil Alexander die Worte ihrer Gedankenstimme fast nachsprach, als er fortfuhr: »Und als ich gegangen bin, hat sie noch gelebt.«
    Sagst du !
    Erneut schien Alexander zu wissen, was in Fannis Kopf vorging, denn er fügte hinzu: »Wenn wir dahinterkommen wollen, was vorgefallen ist, müssen wir uns gegenseitig vertrauen. Wir dürfen nicht den geringsten Zweifel daran hegen, dass der andere die volle Wahrheit sagt. Diejenige, die ich zu bieten habe, lautet: Um zehn Uhr drei hat Marita Bogner sehr lebendig an ihrem Schreibtisch gesessen und gesagt: ›Dann bis morgen, Herr Pauß.‹ Eine Sekunde später habe ich die Tür hinter mir zugemacht.« Er sah Fanni auffordernd an.
    »Als ich die Tür wenige Minuten später aufgemacht habe, war Frau Bogner tot«, sagte Fanni.
    Alexander nickte betrübt, beförderte ein Stück Fisch in seinen Mund und kaute nachdenklich darauf

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