Milchbart (German Edition)
Klerus erhalten geblieben«, sagte Fanni.
»So war es auch in der Familie meiner Mutter«, gestand Tillman ein. »Die Regeln waren streng – sehr streng.«
»Zu streng anscheinend, als dass Vernunftgründe etwas ausrichten hätten können«, präzisierte Fanni.
»Ganz genau.« Tillman nickte. »Je mehr sich gegen das Althergebrachte sagen ließ, desto sturer wurde es verteidigt. ›Gott schreibt auch auf krummen Zeilen gerade‹, hat mein Großvater immer gesagt, und ich habe nie so recht verstanden, wie er das gemeint hat. Inzwischen denke ich, er wollte damit ausdrücken, dass man ›krumme Zeilen‹ am besten gar nicht zur Kenntnis nimmt. Sollen die sich doch winden und wellen, Hauptsache, der Schriftzug darauf verläuft geradlinig.«
Wer weiß, ob Tillman dem Seibold nicht von Herzen dankbar dafür ist, dass er ihn von einer Mutter befreit hat, die ihn ein Leben lang als biologische Minderwertigkeit betrachtet hat. Vielleicht kann er sich jetzt erst als Mensch fühlen!
»Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?« Tillman zeigte auf den Fiat, der umso weniger vertrauenerweckend wirkte, je näher sie ihm kamen.
In diesem Vehikel?
Fanni deutete ein Kopfschütteln an. »Wir wollen noch ein Stückchen laufen, vielleicht sogar bis nach Wimpassing.«
Tillman rollte mit den Augen.
Er scheint den Ort ja nicht gerade für das erstrebenswerte Ziel einer Wanderung zu halten!
Kurz bevor sie bei seinem Wagen ankamen, sagte Tillman: »Es tut mir leid, dass Ihnen so übel mitgespielt wurde, Frau Rot. Bertie Seibold war im Grunde seines Herzens ein guter Mensch. Er wollte mir helfen, er wollte den Professor schützen, er wollte die Parkklinik vor Schaden bewahren. Als er merkte, dass das alles unmöglich zu bewerkstelligen war, muss er den Verstand verloren haben.«
»Sie sind also bereits genauestens informiert«, erwiderte Fanni.
Tillman lachte freudlos. »Was glauben Sie, wie lange man mich gestern noch verhört hat?«
Er schloss gerade die Wagentür auf, als Fanni sagte: »Werden Sie hier wohnen bleiben?«
Tillman zuckte die Schultern. »Wenn man mich lässt.«
Doch dann drehte er sich um und schaute wehmütig über die Lichtung auf das alte Forsthaus.
»Warum sollte Sie wer auch immer die Nachfolge des Professors antreten wird vertreiben wollen?«, sagte Sprudel. »Ihre Objekte sind eine Bereicherung für die Parkklinik. Haben Sie eigentlich schon einmal an eine richtige Ausstellung gedacht? Das alte Forsthaus und seine Umgebung würden sich wunderbar dafür eignen.«
Tillman erwiderte, dass er durchaus daran gedacht und bereits geplant habe, das gesamte Grundstück von März bis Mai in eine Ausstellung zu verwandeln.
»Anfang März ist es nicht mehr so kalt, obwohl meist noch Schnee liegt«, erklärte er. »Das Glitzern des Schnees in der Sonne verzaubert die Landschaft, man glaubt sich in einem Märchen. Einen passenderen Hintergrund für Minka, den kleinen Prinz und Cinderella kann ich mir nicht vorstellen.«
Er gibt seinen Figuren Namen!
Warum nicht, dachte Fanni. Sie sind seine Mitbewohner, seine Familie, wenn man so will.
Die einzige, die er noch hat!
Als Fanni und Sprudel zwei Stunden später zur Klinik zurückkehrten, trafen sie im Foyer auf Alexander.
»Was machst du denn noch hier?«, fragte Fanni.
»Abgesehen davon, dass ich meine Sachen noch packen musste«, antwortete er, »hatte ich eine Menge Abbitte zu leisten. Es hat mich einige Schachteln Konfekt gekostet, aber die Schwestern haben mir verziehen. Michaela auch.«
»Aber sie hat den Talisman dafür verlangt«, platzte Fanni heraus.
»Plus eine Einladung ins Kino«, sagte Alexander.
Fanni wollte sich schon von ihm verabschieden, als ihr noch etwas einfiel. »Bist du tatsächlich wegen des Talismans in Marita Bogners Zimmer zurückgekommen?«
Alexander nickte. »Ich hätte schwören können, dass er auf ihrem Schreibtisch liegen würde, weil ich gewöhnlich während unserer Sitzungen damit herumgespielt habe. Aber wie wir inzwischen wissen, hatte ich ihn vorher schon verloren. Statt des Talismans habe ich im Behandlungszimmer eine leblose Marita Bogner und eine ziemlich verwirrte Fanni Rot vorgefunden.«
»Aber warum in Gottes Namen hast du die Tote umarmt?«, fragte Fanni.
Alexander machte eine verlegene Geste. »Ich musste doch irgendwie feststellen, ob sie nicht doch noch atmet, und dazu musste ich den Finger an ihren Hals legen. Das hätte ich natürlich einfach so tun können, aber dann wäre meine Tarnung womöglich
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