Milchblume
Moment auf den anderen, bedrohlich, keinerlei Rücksicht nehmend auf die Gebrechlichkeit von Pflanzen, Sträuchern, Bäumen. Schwer lag das Eis auf Ästen und Zweigen, sodass sie sich neigten und in erstaunlicher Spannung den Boden berührten. Etliche brachen ab, gingen nieder, knarrend und knackend. Wald, Felder, Wege, Höfe, alles gehörte jetzt dem Winter. Er regierte mit eisiger Hand.
Anfangs glaubte der Seifritz-Bauer, Jakob habe sich versteckt, wolle ihm einen seiner dummen Streiche spielen. Er sah in der Kammer des Burschen nach, schritt durch den Stall, stach ungestüm im Stadel mit der Heugabel ins Stroh. Verärgert und vor Kälte zitternd stapfte er auch noch eine Runde ums Gehöft. Dann aber reichte es, dann war seine Geduld zu Ende. Breitbeinig stellte er sich mitten in den Hof, stemmte seine Beine in den verschneiten Boden und sein ganzer Körper vibrierte vor Wut: »Du Rindsviech! Wenn du nicht sofort rauskommst zur Arbeit, dann gnade dir Gott!« Da kam Jakob die Idee, nach Hilfe zu rufen.
Letztlich war es Fabio, der ihn mit einem Seil und einem seiner Rösser aus dem Misthaufen zog, begleitet von einem sumpfigen Geräusch, anfangs satt saugend, nämlich beim ersten Ruck, dann schlürfend, als Jakobs Brustkorb befreit war, und schließlich in haltloses Schmatzen übergehend, als der Körper des Burschen dem Schlimmsten entrissen war. Schlussendlich ein glitschig schlabberndes Finale.
»Habe ein Nachsehen mit deinem Buben«, versuchte Fabio den Seifritz-Bauern zu beruhigen, »du weißt ja, in den Raunächten ist der Himmel offen, da wirkt eine besondere Magie. Kein Wunder, dass Jakob durcheinander ist.«
»Himmel offen«, schimpfte der Seifritz-Bauer, »besondere Magie! Wenn ich mir so was geleistet hätte, als ich jung war!«
»Du wirst sehen, wenn der Dreikönigstag einmal um ist und alle zwölf Raunächte überstanden, wird auch Jakob wieder vernünftiger sein.«
»Wer’s glaubt, wird selig!«, schrie der Seifritz-Bauer, spürte aber, dass der schlimmste Ärger schon wieder verflogen war. Das machte ihn unrund. Denn er fand, er hatte, verdammt noch einmal, das Recht auf Ärger. Schon lange nämlich keimte tief in ihm die Ahnung, dass er Jakob Dinge durchgehen ließ, die ihm selbst, zu seiner Zeit, unmöglich gewesen wären. Er konnte nicht anders, als zu finden, dass all diese Sonderlichkeiten, die sich der Bursche herausnahm, nicht nur irgendeinem dubiosen Selbstzweck dienten, sondern vielmehr und darüber hinaus gegen ihn gerichtet waren, gegen ihn höchstpersönlich. Mit seinen Anwandlungen tanzte ihm der Rotzbub doch in einem fort auf der Nase herum!
»Es ist klug von dir, deinen Buben nicht zu bestrafen«, rief Fabio ihm nach.
Kruzifix, ärgerte sich der Seifritz-Bauer.
Obwohl er die Raunächte dem Fahrenden gegenüber als belanglos abgetan hatte, glaubte der Bauer doch fest an ihre dämonische Wirkung. So wie viele hatte er von seinen Eltern nämlich nicht nur Aussehen und Gewohnheiten geerbt, sondern auch deren Glauben und Aberglauben. Und so war er überzeugt, dass man in diesen Tagen gut daran tat, den Hof erst gar nicht zu verlassen. Draußen nämlich, da trieben sich, sobald es eindunkelte, allerlei Geisterwesen umher. Um sie zu verscheuchen und den Hof vor Verwünschungen zu bewahren, gingen die Bauern Jahr für Jahr mit glosenden Kräutern ums Gehöft und durch die Zimmer. Nur der heilige Rauch, wussten sie, hatte die Kraft, all die bösen Geister fernzuhalten.
Die Raunächte waren auch Losnächte, entschieden also über Wohl und Weh. Nicht zuletzt entschieden sie über das Los der Witterung. Anhand des Wetters in den zwölf Raunächten ließ sich für die Bauersleute das Klima des folgenden Jahres ablesen. Jeder der zwölf Tage entsprach einem der zwölf Monate. So, wie sich das Wetter am jeweiligen Tag verhielt, würde auch der entsprechende Monat ausfallen.
Aber nicht nur für die Bauern, auch für die Fahrenden waren die Losnächte von Bedeutung. Fabio etwa machte sich jedes Jahr am Tag vor der ersten Raunacht auf, um rechtzeitig vor Mitternacht beim Großen Stern zu sein, einem jahrhundertealten Kreuzweg, in dessen Mitte nicht weniger als acht Wege zusammenliefen. »Kein Kreuzweg vereint stärkere Kraftlinien als dieser«, sagte der Fahrende einmal zu Jakob. Er vermochte aus Geräuschen, die er im Zentrum des Kreuzwegs durch konzentriertes Horchen vernahm, Prophezeiungen anzustellen; Prophezeiungen, die seiner Sippe schon des Öfteren geholfen hatten, Unheil aus dem
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