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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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ältere, gesagt, dass es jetzt reiche, dass ich nicht so unschuldig tun solle, dass sie mich gesehen hätten, wie ich am Nachmittag eine ihrer Kühe geschnackselt und dann drangsaliert hätte, genauso wie damals die Kühe vom Huber-Bauern. Ich habe mich überhaupt nicht ausgekannt, und dann haben sie gesagt, ich könne ja mitkommen und es mir anschauen. So würde ich mit eigenen Augen sehen, was ich angerichtet hätte. Meine Antwort wollten sie gar nicht hören. Kurt hat mich an einem Arm genommen, Franz hat sich den anderen geschnappt, und dann sind sie, mit mir in der Mitte, zu sich auf den Hof, rein in den Kuhstall, und da war es wirklich so: Die tote Kuh ist gleich neben der Stalltür gelegen, die Augen vor Schmerz verdreht, eine rostige Eisenstange im Hinterleib und rund um sie alles voller Dreck und Blut.
    Schlimm genug, dass ich die Kühe vom Huber-Bauern so zugerichtet hätte, haben sie mich angeschrien, aber jetzt auch eine der ihren! Jetzt reiche es endgültig. Jetzt sei ich dran, haben sie gedroht. Alle beide hätten sie mich gesehen, diesmal hätte ich keine Chance, ungeschoren davon zu kommen, aber nicht die geringste, haben sie gebrüllt, so nahe vor meinem Gesicht, dass ich die Augen zugemacht habe. Als sie sich in die schlimmste Rage hinein geredet hatten und ich wirklich nicht mehr gewusst habe, wo mir der Kopf steht, sind sie plötzlich ruhiger geworden und haben gesagt: »Aber weil wir uns schon so lange kennen, geben wir dir noch eine letzte Gelegenheit, die Sache wieder gut zu machen.« Einmal hätten sie es mir ohnehin schon angeschafft, jetzt müsse ich es aber auch wirklich tun, jetzt müsse ich ihren Hof anzünden, damit sie die Versicherungssumme bekämen, und wenn mir jemand draufkomme, müsse ich zugeben, dass ich es gewesen sei, ich alleine, ganz alleine. Mir würde ohnehin nichts geschehen, weil ich ja geisteskrank sei und nicht zurechnungsfähig.
    Mir war ganz schwindlig. So viele Gedanken und Eindrücke, und in einem fort haben die Lagler-Buben auf mich eingeredet. Ich habe überlegt, was an all dem wahr sein konnte und was nicht. Die Wirklichkeit war schon wieder so furchtbar kompliziert. Ich war bei weitem nicht fertig mit meinen Gedanken, da haben sie mich nach draußen gedrängt und haben geschrien: »Da schau her, du Drecksau, da sind ja sogar noch deine Fußspuren.« Ich habe gestottert, die seien doch von gerade jetzt, aber sie haben gesagt: »Nein, nein, oder siehst du welche von uns?« Und tatsächlich, da waren nur meine, nur meine Fußspuren am Boden und daneben die Kuh, die zu Tode gequälte, arme Kuh.

8.
    J akob schlich im Stall umher. Er war nackt. Ihn fröstelte. Gän­sehaut an seinem Körper. Aber das war jetzt nicht wichtig. Er musste jetzt nun einmal nackt sein. Anders ging es ja nicht. Im Stall brannte kein Licht, nur der Schein des Mondes fiel blass durch die schmalen Luken, ruhte schimmernd auf den breiten Rücken der Kühe. Jakob griff nach der Mistgabel. Drehte sie um. So, dass der hölzerne Stiel nach oben ragte. Und dann näherte er sich dem Tier, das am nächsten zum Stallfenster stand. Er ließ seine Hand über das Fell gleiten, strich langsam, Wirbel für Wirbel betastend, über das Rückgrat der Kuh und sog den Duft ein, den ihr massiger Körper verströmte. Jakob stand nun dicht hinter ihr, rückte sich den Melkschemel zurecht, bestieg ihn, festigte seinen Griff um die Mistgabel – und dann spürte er tiefe Freude in sich aufsteigen.
    Wie erleichtert er war! Er konnte nicht der Kuhschänder sein. Nie und nimmer hätte er einem Tier Leid zufügen können. Das wusste er jetzt ganz sicher. Sein Experiment war ein voller Erfolg. Nun, da er sich in die Rolle des Schänders hineinversetzt hatte, wusste er, dass er zu derartigem Unrecht nicht fähig war. Befreit stieg Jakob vom Melkschemel und genoss die Vorfreude darauf, für eine Weile wieder unter seine Decke schlüpfen zu können.
    »Jakob? Jakob bist du das?«
    »Jakob!«
    Fabios Stimme hatte ihn erschreckt.
    »Jakob! Was um Himmels willen machst du da?«
    Es dauerte eine Weile, bis der Bursche, in einer Hand die Mistgabel, mit der anderen notdürftig sein Geschlecht bedeckend und am ganzen Körper vor Kälte zitternd, Fabio begreiflich machen konnte, was er eben im Stall getrieben hatte. »Du bist mir ein Kauz!«, sagte der Fahrende kopfschüttelnd. »Aber dass du dein Innerstes erforscht hast, ist schon recht. Gut und Böse sind in jedem von uns. Je mehr wir uns das eingestehen, desto eher können wir

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