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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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sie zu einer machst.«
    Als Fabio fertig war mit seiner Predigt, habe ich mir gedacht, dass er recht hat. Und: dass er vermutlich selbst schon viel Anlass gehabt hat, sich Gedanken über das Thema zu machen.

9.
    E ine sonderbare Stimmung lag in diesen Tagen in der Luft. Zerhackt nur vom hölzernen Klopfen des Webstuhls der Huber-Bäuerin, die mit rundem Rücken davor hockte und keine Ruhe geben wollte. Es war eine Stimmung, mit der keiner so recht etwas anzufangen wusste. Eine Stimmung, die weder gut noch schlecht war, die die Dinge und die Seelen der Menschen vielmehr in einem Schwebezustand zu halten schien, offen für jede Möglichkeit. So mancher in Legg hatte in diesen Tagen das Gefühl, hinter seinem Rücken Geräusche zu vernehmen, Schatten zu spüren. Doch als sich die Menschen umdrehten oder argwöhnisch den Kopf zur Schulter drehten, war da nichts. Nichts, außer dem nassen, schmelzenden Schnee, dürr im Wind vibrierenden Ästen und, weit weg, dunklen Vögeln, die schemenhaft durch den schmutzigen Himmel glitten.
    Vielleicht hatte diese Stimmung ja etwas damit zu tun, dass die Tag- und Nachtgleiche bevorstand. Jenes besondere Stück Zeit, in dem Hell und Dunkel einander die Waage halten und die Welt in der Schwebe ist, erwartungsvoll. Altem Glauben nach bildet die Tag- und Nachtgleiche jene schicksalhafte Kulisse, die Gott für den Beginn der Welt vorgesehen hatte. Es sei jene flüchtige Zeit, erzählten die Alten in Legg, in der Gott die Welt genau dort abgesetzt habe, wo es ihm gefiel. Das sei auch der Grund, warum am 21. März nicht nur der Frühling beginne, sondern – viel bedeutender – ein neues Planetenjahr. Exakt zu dieser Zeit, wusste die Seifritz-Großmutter zu berichten, übernehme ein anderes Gestirn die Vorherrschaft über die Erde, um ein Jahr später selbst abgelöst zu werden. In geordneter Reihenfolge wechselten sie einander ab: Saturn, Jupiter, Mars, Sonne, Venus, Merkur und Mond. Jedes Gestirn beeinflusse die Erde und ihre Lebewesen nach seinen Eigenheiten. Am Übergang von einem Himmelskörper zum anderen aber, das galt als gesichertes Wissen, könne es zu Unregelmäßigkeiten kommen, zu Unerklärbarem. Tiere würden das spüren. Und auch Menschen, wenn sie die Gabe hätten, oder einfach nur aufmerksam genug seien.
    Der Huber-Bauer gehörte zu jenen, die aufmerksam waren. Er stand vor seinem Hof, an die Hausmauer gelehnt, blickte zum Himmel, blies eine selbst gedrehte Zigarette nach der anderen in die lauwarme Luft und konnte das Kopfschütteln nicht lassen. »Verrücktes Wetter«, brummte er. »Man weiß nicht recht, woran man ist.«
    Am Vormittag war er gemeinsam mit seinem Knecht im Wald gewesen, bis ihm das außergewöhnliche Licht und die unbekannten Laute gar zu ungeheuer geworden waren und er beschloss, zum Hof zurückzukehren – unter dem Vorwand, furchtbar hungrig zu sein. Jakob sollte es recht sein. Etliche Stunden schon war er damit beschäftigt gewesen, Äste aufzuklauben, die bei den Holzarbeiten angefallen waren. Irgendwann hatte er aufgehört zu zählen, wie viele er schon zum Fuhrwerk gezerrt und auf die Ladefläche geschmissen hatte. Unsinnig war ihm mit einem Mal die Zählerei erschienen, und er musste sich wundern über sich, denn die Arbeit selbst war doch, gleich wie eintönig sie auch scheinen mochte, sinnvoll genug, verdiente es nicht, durch Zählen entwürdigt zu werden. Jakob genoss diese Erkenntnis, sie schenkte ihm Zufriedenheit.
    Gemeinsam waren er und der Huber-Bauer mit einer hoch aufgetürmten Fuhre Holz heimgekehrt. Kaum angekommen, war der Bauer vom Kutschbock gesprungen, ums Eck getrottet und hatte sich gegen die schützende Hausmauer gelehnt. So konnte ihm nichts und niemand in den Rücken fallen. Er zog die Schultern hoch, und dann ließ er nicht mehr davon ab, in den Himmel zu starren. Das Mittagessen blieb unangetas­tet, was den Ärger der Bäuerin hervorrief, der erst wieder vergehen wollte, als sie Jakob mehrere Male in den Schritt gegriffen hatte und an sein davoneilendes Hinterteil. Der Bauer indes ließ sich anstatt der warmen Mahlzeit Schmalzbrote mit Zwiebelringen, Paprika und Knoblauchscheiben nach draußen bringen. Er aß sie ebenso beiläufig wie gierig, ohne viel Genuss und mit unverändert grimmigem Gesicht. Sein Knecht hatte derweil die Fuhre Äste zu Kleinholz zu hacken, sie danach im Schuppen zu einer Schar aufzu­schlichten. Eine schöne Arbeit war das, fand Jakob, und er kostete seine Freude darüber aus.
    Als es dämmerte,

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