Milchblume
nicht danach. Jakob stand der Schweiß am ganzen Körper. Erneut setzte er an, erneut prallte er ab. Da begann die Angst in ihm aufzusteigen, die Angst, es womöglich nicht zu schaffen, die Angst vor dem Schwinden der Kraft. »Konzentrier dich!«, befahl er sich. »Konzentrier dich!« Jakob dachte jetzt wieder an Fabio, dachte an dessen Worte: »Sammle deinen Willen in einer Nagelspitze, und du wirst das Hindernis durchdringen.« Daran dachte Jakob jetzt. Daran und an seinen Freund und Lehrer Fabio. Aber sein Gebet richtete er an Gott. Jakob sagte nicht: »Bitte gib mir Kraft.« Jakob sagte: »Du gibst mir jetzt Kraft, immense Kraft, du machst mich jetzt stark, ich durchbreche jetzt die brennenden Latten.« Und dann rannte Jakob los, sein Schrei begleitete ihn, und sein Körper durchfuhr die Wand. Krachend und funkensprühend gab sie nach, Splitter und Glut stoben davon. Jakob fiel zu Boden, sah wegen des Rauches im Stall kaum die Hand vor seinen Augen, tastete nach den Kühen, schnitt sie mit seinem Taschenmesser von ihren Stricken, dachte nicht an die Gefahr des Rauches, öffnete den Schweinekobel, das Pferdegatter. Die Feuerangst lähmte die Glieder der Tiere. Noch keines hatte sich nach draußen gerettet, obgleich Jakobs Körper ein breites Loch in die hölzerne Stallwand gerissen hatte. »Ihr folgt mir jetzt alle!«, schrie Jakob, und da merkte er zum ersten Mal, dass ihm schlecht wurde, schwindlig, und dass er kaum noch Atem hatte. Dann schrie er noch einmal »Alle jetzt hinter mir nach!«
Die Bauern hatten inzwischen alles, was nicht niet- und nagelfest war, aus dem Wohnhaus geräumt. Schnaufend standen sie neben dem riesigen Haufen Hausrat.
»Ist noch wer im Hof?«, rief ein Feuerwehrmann.
»Die Viecher!«, schrie Kurt, der ältere Sohn der Huber-Bäuerin, und griff sich vor Schreck an den Mund.
»Vergiss die Viecher!«, rief der Feuerwehrmann und schüttelte den Kopf, »Die kriegen wir aus dem Stall nimmer raus. Wir müssen das Haus absichern.« Franz, der Jüngere, brach in Tränen aus.
»Wo ist eigentlich euer kranker Großvater?!«, rief der Feuerwehrmann.
Jetzt schlug die Lagler-Bäuerin die Hand vor den Mund.
***
Die Lagler-Bäuerin, Kurt und Franz haben ihren kranken und bettlägerigen Großvater im Feuer vergessen. Ab dem Tag, an dem der Lagler-Bauer bei einem Unfall im Wald umgekommen ist, hat sein Vater, der Lagler-Großvater, im Zubau schlafen müssen, gleich neben dem Stadel. Der Zubau ist völlig ausgebrannt. Nachdem die Tiere im Freien gewesen sind und ich gehört habe, dass der Lagler-Großvater noch drinnen ist, bin ich losgelaufen, um ihn zu holen. Die Feuerwehrleute haben nicht hinein wollen, um keinen Preis der Welt, haben sie gesagt. Sie wollten auch nicht, dass ich reingehe, haben gemeint, dass das Dach einbrechen werde, jeden Moment.
Auf dem Weg zu seiner Kammer hat schon alles gebrannt, und ich habe bald furchtbar husten müssen wegen des vielen Rauches. Als ich den Alten gefunden habe, ist sein Bett auf einer Seite schon lichterloh in Flammen gestanden, und auch er hat auf einer Seite schon gebrannt. Trotzdem ist er ganz ruhig drinnen gelegen, hat keinen Mucks gemacht. Das war deshalb so, weil er schon tot war. Wahrscheinlich wegen des Rauches, den seine kranken Lungen eingeatmet haben. Ich habe ihn trotzdem rausgezogen und mich ziemlich verbrannt dabei, weil er stark geglost hat, der Lagler-Großvater.
Als alles so halbwegs vorbei war, haben mir die Leute auf die Schulter geklopft und gesagt, ich sei ein Held, weil ich doch die Tiere gerettet habe. Es war ungewohnt für mich, einmal nicht beschimpft oder verdroschen zu werden, sondern gelobt. Richtig gelobt! Eine schöne Stimmung ist trotzdem nicht aufgekommen in mir, weil ja der Lagler-Großvater halb verbrannt in der Wiese gelegen ist. Das Gewand, das an seiner Haut gepickt ist, und auch sein Fleisch haben ziemlich geraucht und gestunken.
Am nächsten Tag in der Früh ist dann das ganze Dorf zusammengelaufen vor dem Schutt- und Kohlehaufen, der einmal der rechte Teil des Lagler-Hofs gewesen ist. Die Bauern, der Bürgermeister, der Wirt, der Pfarrer, eine Schar Kinder und ein Dutzend alte Weiber haben in die Asche geschaut, mit den Füßen nach herausstehenden Gegenständen gestoßen und festgestellt, dass es noch immer Glutnester gab und an vielen Stellen weiterhin Rauch aufstieg. Je nach Gemüt haben die Leute die Hände zusammengeschlagen, die Münder nicht mehr zubekommen, die Köpfe geschüttelt und sich über alles
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