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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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so ihre Gedanken gemacht und damit nicht lange hinter dem Berg gehalten. Alle haben recht mitleidig getan, aber in Wirklichkeit war es ein Geschnatter und Durcheinander wie am Jahrmarkt. Meine Heldentat vom Vorabend ist über Nacht noch größer und spektakulärer geworden. Ein altes Weib, das beim Brand gar nicht dabei gewesen ist, hat erzählt, ich hätte sämtliche Schweine mit meinen bloßen Händen aus dem Stall getragen. Und das Pferd hätte ich gerettet, indem ich mit ihm aus der brennenden Hölle geradewegs herausgeritten sei. Komisch, habe ich mir gedacht, warum die Leute immer so übertreiben müssen.
    »Ob das nicht die Zigeuner waren«, hat auf einmal der Wirt gesagt, weil er sich wichtig hat machen wollen, und dabei den Bürgermeister angeschaut. Der hat nicht gleich geantwortet, sondern hat bedächtig den Kopf gewiegt, als würde er allerlei Interessantes und Kluges auf seine Brauchbarkeit hin abwägen. Wahrscheinlich hat er aber nur deshalb so nachdenklich getan, um Zeit zu gewinnen und zu sehen, wie die Umstehenden reagieren.
    »Die Zigeuner sind doch schon wochenlang weg«, hat der Seifritz-Bauer gesagt und über den Wirt den Kopf geschüttelt. Aber der Wirt hat nicht aufgehört und gemeint: »Bei denen weiß man nie, das sind Teufel.«
    »Na ja, vielleicht hat der Wirt ja wirklich recht«, hat sich der Pfarrer eingemischt. »Ein ungehobeltes Leben führen sie gewiss. Und über den Weg trauen darf man solchen ja nie.«
    Ich habe mir gerade einen Satz überlegt, um mich einzumischen und die Zigeuner zu verteidigen, da ist auf einmal der Lagler Kurt in der Runde gestanden. »Wer von euch weiß, wem die braune Weste da gehört?«, hat er gefragt und das halb verkohlte Ding in die Höhe gehalten. Der Weste hat ein Ärmel gefehlt, und Asche ist an ihr gepickt. »Wir haben sie beim Eingang zum Stadel gefunden«, hat der Lagler Kurt gesagt, sich mit finsterer Miene in der Runde umgeschaut, und dann geschrien: »Die Weste gehört sicher dem Brandstifter! Die Sau wird sie in der Eile vergessen haben, nachdem sie unseren Hof angezündet hat!«
    »Das ist meine Weste«, habe ich darauf gesagt. Weil es ja wirklich meine war.

11.
    Gegen den heftigen Willen von Kurt und Franz bestand die Lagler-Bäuerin darauf, den Leichnam des Großvaters in deren enger Kammer aufzubetten. Und sie bestand darauf, dass ihre beiden Söhne die Totenwache übernähmen, bei Tag und bei Nacht.
    Die Kammer der Burschen wurde für den Großvater festlich geschmückt, mit Heiligenbildern, rosa und weißen Papierblumen, mit Marienstatuen und allerlei Kreuzen. Kleinen und großen, mit Jesus und ohne. Volle drei Tage und volle drei Nächte wurde der Tote aufgebahrt, ihm die letzte Ehre erwiesen. Ein penetranter, stechend süßer Geruch entwich seinem ausgezehrten Körper, der auf der linken Seite vom Scheitel bis zur Schulter aufgebrochen war, verbrannt und verkohlt an Arm, Hüfte und Bein. Die Bäuerin trug ihren Söhnen auf, alle zwei Stunden vor der Leiche des Großvaters niederzuknien und für dessen Seelenwohl zu beten.
    Am frühen Morgen des vierten Tages betraten der Bürgermeister und der Wirt den äußersten Zipfel des Eigenwaldes. Sie wollten zum Hochstand auf der Bachwiese. Nachdem sie wenige Schritte in den Wald getan hatten, blieb der Wirt stehen und wies mit gestrecktem Arm zur Seite. Franz, der jüngere Sohn der Lagler-Bäuerin, drehte sich sachte im Wind.
    Zu Beginn hatten beinahe alle in Legg geglaubt, Jakob sei der Brandstifter gewesen. Das lag daran, dass es aufgrund der gefundenen Weste die nächstliegende Erklärung war. Und auch daran, dass allzu viele Menschen gewohnt waren, nicht weiter zu schauen als bis zu ihrer Nasenspitze.
    Als die beiden Gendarmen beim Huber-Hof vorgefahren waren, um Jakob zu verhören, hatte er um Bedenkzeit gebeten. Die Gendarmen hatten vielsagende Blicke gewechselt, genickt, und Jakob dann dabei beobachtet, wie er sich unweit des Gehöfts in die kühle Frühlingswiese gestreckt hatte.
    Der Bursche war eine Ewigkeit auf dem Bauch liegen geblieben. Dann hatte er sich aufgerichtet, zum Sitzen, die Beine an die Brust gezogen und – mit einem Löwenzahnhalm die Luft gepeitscht. Den Gendarmen schien, er warte auf etwas, fanden aber keine Erklärung, was es sein könnte. Da sah Jakob unvermittelt nach oben. Über ihm kreiste ein Rabe im tiefen Blau des Himmels. Seine Kreise wurden enger und enger, und er verlor an Höhe. Wenig später setzte er zur Landung an, berührte knapp vor Jakob den Boden

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