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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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bedrohlich tief nach unten gerutscht, dem Erdboden zu. Markerschütternd hatte der Äther gegrollt und rumort, um das Dröhnen schließlich doch über Legg hinwegzuschicken, im letzen Moment. Nur der äußerste Rand der Front streifte den Flecken Land. Ein überraschend kalter Schauer. Wenige dicke Tropfen waren es, gleichsam eine Mahnung, ein Beweis der Macht, die es gab, da oben, die aber einmal noch ein Ein­sehen gehabt hatte mit den klein zuckenden Pünktchen am Erdboden, den Menschlein in Legg, die gebannt nach oben starrten in den düsteren, unwetterschwangeren Himmel, und darüber kurz ihre Großartigkeit und Übermütigkeit vergaßen, gänsehäutig im auffrischenden Wind, mit bangen Gesichtern, zitternd, leise murmelnd.
    Am Tag danach idyllische Ruhe. Nur Vogelgezwitscher und herrlicher Sonnenschein. Jetzt war alles gut. Jetzt schien sie da, die schönste Zeit des Jahres. Diese Zeit, die so kurz war hier heroben, so kostbar deshalb. Jetzt durften sich alle wieder groß fühlen, wild und stark und selbstsicher. Die Alten hielten kluge Reden, den Mannsbildern schwollen Muskeln und Kamm, die Frauen besannen sich plötzlich wieder ihres losen Mundwerks, und die Kinder schleppten hölzerne Sautröge zum Teich, um damit in den Wellen zu reiten. Es war die Zeit, in der die Kater um die fremden Höfe strichen mit gespanntem Fell und wie elektrisiert zuckendem Schwanz. Es war die Zeit, in der die Burschen im ersten Stock und zu ebener Erd’ fensterln gingen zu jungen Mädchen, die nicht immer erfreut waren über den aufkeimenden Jungmännerdrang. Aber in gottesfürchtigen Höfen zierte ohnehin ein eisernes Fensterkreuz die Kammern der Mädchen – schlecht für die Burschen, zuweilen auch für die Mädchen, aber unübertroffen gut für die Ehre. Wenn auch nicht auf Dauer. Denn war das Fens ter einmal aufgetan, drang üppig warmer Sommerwind in die Kammern und in die auf der Leiter zappelnden Hosenbeine. Dann waren die Körper erhitzt und die Herzen erwärmt. Das reichte fürs Erste, und niemanden wunderte es, dass so manche Liebe begann beim zaghaft-keuschen Durchs-Gitter-Busseln.
    Wurde in Folge das Mieder der Bauerntochter zu eng, hieß es schleunigst heiraten. Das war wichtig – für die arg in Bedrängnis geratene Ehre. Gehörte der prall mit jungem Leben gefüllte Unterrock aber einer unkeuschen Magd, wurde das Dirndl kurzerhand vom Hof gejagt. Auch das geschah im Namen der Ehre. Der Ehre des Bauern freilich. Und, nicht zu leugnen, es geschah auch in stiller Sorge um seine Geldbörse. Denn eine Magd mit Kind, das wussten alle, taugte kaum noch und war ihren Lohn nicht wert. Weg musste sie also, und das rasch. Da konnte dem verzagten Mädel nichts und niemand helfen. Auch nicht die sonntägliche Frömmigkeit der Bauersleute.
    Aber im Sommer, da wurde noch kein unnützer Gedanke verschwendet an später, an womöglich schlechte Zeiten. Im Som­mer, da dampfte und brodelte das Leben. Im Sommer hieß es genießen, ungestüm. Da liefen die Jungen mit nackten Sohlen ausgelassen über Stock und Stein, schritten die Erwachsenen genüsslich über duftende Kräuterwiesen, flüchteten die Alten in den wohltuenden Schatten der Hofmauer. Im Sommer, da spross alles und blühte in voller Pracht, ungezügelt und im Übermaß. Im Sommer, da hieß es, darauf zu achten, wann die Kuh nach dem Kalben abermals nach dem Stier verlangte. Im Sommer, da wälzten sich die Schweine übermütig grunzend im sumpfig-warmen Dreck. Im Sommer klaubten Kinder die gefräßigen Erdäpfelkäfer von den Blättern, in der fiebrigen Vorfreude, sie ohne einen Hauch schlechten Gewissens knackend unter ihren nackten Fersen zu zertreten. Spannend war auch, sie in eine Erdgrube zu kippen und zu beobachten, wie sie, von Kalk übergossen, ihr Leben gaben. Ja, der Sommer war herrlich.
    Umso mehr wunderte sich Jakob über dieses merkwürdig bedrückende Gefühl, das in ihm aufsprang wie ein Samenkorn, von irgendwoher kommend, anfangs klein und unbedeutend. Schnell aber wuchs und wuchs es in ihm, dieses Gefühl, das er nicht benennen konnte, nicht verstand, und für dessen Auftauchen er keine Erklärung fand. Gerade noch war er im vollen Schwung der Arbeit gewesen, hatte es genossen, wie beim Holzhacken die Scheiter prächtig zur Seite geschnellt waren unter der Kraft seiner Arme, hatte die wohltuende Anstrengung wahrgenommen, seine angespannten Muskeln, seinen aus allen Poren schwitzenden Körper. Jetzt war diese Dynamik gestört. Keine Rede mehr von jenen

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