Milchblume
gewandten, runden Bewegungen, die Jakobs Arme, Schultern, Beine gerade noch beschrieben hatten. Außer Takt war Jakob jetzt. Und rätselte warum. Er konnte sich die Nervosität nicht erklären, die in ihm hochkam, immer mächtiger. Alles, was er wusste, war, dass er an Silvia denken musste. Jetzt aber nicht wie sonst, dass ihm heiß wurde im Gesicht und es aufregend zitterte im Zwerchfell. Diesmal war es Sorge. Und einmal erkannt, plötzlich uferlos. Jakob wurde kurzatmig. Panik überfiel ihn. Sie fuhr so bedrohlich unter seine Haut, dass er die Hacke fallen ließ und losrannte, zum Seifritz-Hof, zu Silvia.
Jakob lief so schnell, dass er sich fliegen fühlte. Und dieser Flug beschleunigte sich mit der Ahnung, die in ihm so furchtbar greifbar wurde, dass dem Burschen schlecht wurde davon. Er rannte, wie in Trance.
Wie dumm war er gewesen! Die Warnung der Großeltern, er hatte sie nicht zu deuten gewusst. Dabei wäre es so einfach gewesen: »Stechen böse Fliegen, werden wir noch furchtbare Gewitter kriegen.« – »Kriechen Würmer auf den Wegen, kommt’s zu schrecklichem Regen.«
Niemand war auf dem Feld, alle waren in der Kirche, in der Frühmesse. Keine Menschenseele auch im Innenhof, aber Silvia war daheim, ganz sicher, weil der Bauer gesagt hatte, er brauche sie, für eine dringende Arbeit, die nicht mehr warten könne. Längst hatten die Kirchenglocken aufgehört zu läuten, waren die Reihen der Bänke dicht besetzt. Nebeneinander saßen sie, der Großvater, die Großmutter, die Bäuerin, Hans und Fritz. Schon beim Niedersetzen hatte die Großmutter Unverständliches gemurmelt, war dann zu Beginn der Messe, kaum dass der Pfarrer seine Predigt begonnen hatte, in Wimmern verfallen, ganz so, als sei sie der Predigt nicht gewahr, als wäre das Gerede des Pfarrers in diesem Augenblick die nebensächlichste Sache überhaupt. Auf der Vorderbank hatte die Alte ihre verknoteten Hände ineinander gefaltet, ihre Stirn darauf geworfen. Gekrümmt kauerte sie da, und in der Kirche kam Unruhe auf, denn das weinerliche Beten der Seifritz-Großmutter war in herrgottanrufendes Schluchzen übergegangen. Die sonst so harte Frau winselte um ihr Seelenwohl, bettelte bei Gott um Vergebung, weil sie zu schwach gewesen war, etwas zu tun gegen das Unheil, das aus ihrem Schoß gekrochen war vor langer, langer Zeit, das heftiger und heftiger geworden war zuletzt, und das in diesem Moment womöglich zum Schlimmsten ansetzte, es zum Bösesten trieb überhaupt. Die Alte betete, klagte und jammerte immer lauter, die Vokale kurzatmig herausgepresst, unverständlich, tränenerstickt. Die Verzweiflung schüttelte ihren zähen Körper, und daneben saß der Großvater, der nichts sagte und sich nicht rührte, nur geschlagen wirkte und hoffnungslos und verloren. Neben ihm saß die Bäuerin, leichenblass und wie weggetreten. Auch sie hatte sich wegschicken lassen, und auch sie konnte sich jetzt nicht losreißen von den ungeheuerlichen Gedanken, die ihr Geist in ihre Seele stieß, erbarmungslos. Zerrbilder waren es. Die zeigten, was gerade eben passieren mochte, daheim am Hof. Bilder, die sich nicht verscheuchen ließen, obwohl sich die Bäuerin anstrengte, denn wenigstens beten wollte sie noch können, wenn schon sonst nichts dazu tun, dass doch alles gut ausgeht, gut ausgeht, bitte, gegen jeden Glauben. Beten wollte sie, dass der Herrgott ihr verzeihen möge, ihr, die sich mutlos, nachlässig davongeschlichen hatte vom Hof wie eine geschlagene Hündin, verkrochen, in den kühlen Schoß der Kirche. In den Schoß, wiederholte die Bäuerin einen Gedanken, und der schauderte sie, nahm ihr Sinn und Kraft und alles, ließ sie zur Seite kippen. Ohnmacht überall.
Jakob zerrte die Stalltür auf. Und weil dort niemand war, rannte er weiter, außer Atem, hinein ins Wohnhaus, in die Küchenstube. Schlug die Tür auf. Stand vor der Szene, die er erahnt hatte, vor dem Bild, das bitte, bitte nicht wirklich sein sollte. »Bitte«, formten Jakobs Lippen. Tonlos. Vor ihm zwei nackte Körper auf dem Küchentisch. Die fleischige Rückseite feister Männerschenkel, dicht behaart. Ein schmierig-blasser Männerhintern, rötlich verkrätzt. Und dann der viehische Ausdruck in der Fratze des Bauern, der seinen Kopf seitwärts nach hinten warf, Jakob anstarrte, Beelzebub. Sein Stiernacken in breite Falten gelegt, Muskelstränge am Rücken des wuchtigen Leibes, mit fester, breiter Masse, tief gebeugt über einen zitternden, zierlichen Körper, ihn verschlingend,
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