Milchblume
worden ist.
»Jetzt kann ich gehen«, habe ich zu Silvia gesagt, und dann bin ich gegangen.
Ich habe nicht recht gewusst, wohin. Zum Huber-Bauern wollte ich nicht, also bin ich einfach raus und geradewegs über die Wiese, Richtung Hügel. Ich muss so um die hundert Schritte gegangen sein, als ich den Schuss gehört habe. Ich habe mich umgedreht, und den Seifritz-Bauern gesehen, wie er mit angelegtem Gewehr, torkelnd und noch immer völlig nackt und blutüberströmt, beim Hof gestanden ist. Da hat er schon den zweiten Schuss abgefeuert. Ich bin losgelaufen, und als es kurz darauf zum dritten Mal geknallt hat, hat plötzlich meine Schulter gebrannt. Ich bin hingefallen, ich glaube, es war wegen des Schocks. Als ich gleich darauf wieder habe denken können, bin ich aufgesprungen und weitergelaufen. Ich habe die Richtung geändert und gleich darauf einen Blitz gesehen, rechts vor meinem Gesicht, und mein Scheitel hat gebrannt. Nein, nicht schon wieder in den Kopf, habe ich mir gedacht und über mich lachen müssen, weil ich es in diesem Moment plötzlich witzig gefunden habe, dass mir ein Jahr nach dem Vorfall auf der Bachwiese schon wieder in den Kopf geschossen worden ist. Gleich darauf habe ich Angst bekommen, dass ich sterben könnte, aber im Laufen habe ich mich damit beruhigt, dass es nicht so schlimm sein könne, weil ich ja sonst weder weiterlaufen noch witzige Sachen hätte denken können. Ich war noch nicht aus dem Schussfeld, aber trotzdem hat es nicht mehr hinter mir geknallt. Ein paar Meter bin ich noch weitergelaufen. Dann bin ich stehen geblieben, habe mich umgedreht und gesehen, dass der Bauer am Boden lag.
Ich weiß nicht recht warum, aber ich bin in den Eigenwald gelaufen. Irgendetwas hat mich tief hinein getrieben in die dunkle Kühle des Waldes. Ich bin über moosigen Boden gefedert, über herabgefallene Äste gesprungen, Baumstümpfen ausgewichen und habe mir immer wieder Blut aus dem Gesicht gewischt. Es ist mir lästig ins Auge geronnen. Schmerzen habe ich keine gehabt und auch keine Gedanken. Ich bin nur gelaufen, immer weiter hinein in den Wald. Bis dann irgendwann Blitze durch meinen Kopf gefahren sind. Das hat mich beunruhigt, besonders, weil die Blitze immer heftiger geworden sind und heller, und sie immer öfter durch meinen Kopf gezischt sind. Von da an hat es nicht mehr lang gedauert, und ich habe Schwierigkeiten bekommen zu atmen. Ich habe das Gefühl gehabt, dass irgendetwas Unsichtbares schwer auf meinen Brustkorb drückt, mich zuschnürt. Als dann die Übelkeit vom Magen in meinen Hals geschossen ist, ist es ganz schnell gegangen. Das Letzte, was ich mitbekommen habe, war, dass ich nach oben geschaut habe und sich über mir die Wipfel gedreht haben. »Rätsch, rätsch«, hat ein Eichelhäher geschrien, und dann war ich weg.
14.
S o manches hätten die Seifritz-Großmutter, der Seifritz-Großvater und die Seifritz-Bäuerin erwartet, als sie mit Hans und Fritz von der Kirche zum Hof zurückkehrten. Die schlimmsten Vorstellungen hatten sich herumgetrieben in ihren Köpfen. Beinahe grenzenlos war ihre Phantasie. Aber nie und nimmer wäre ihnen eingefallen, dass sie den Seifritz-Bauern völlig nackt vorfinden würden. Mit gebrochener Nase und beinahe zahnlos. Mit zerfetztem, zerrissenem Geschlecht, bewusstlos in seinem Blut liegend, und neben sich die Flinte.
Es dauerte nicht sonderlich lange und halb Legg hatte sich am Hof versammelt. Mit dem Vorwand, nur nachschauen zu kommen, ob auch nichts Schlimmes passiert sei, wurde die breite Blutspur bestaunt, die sich von der Eingangstür hinzog bis zur im Boden versickernden Blutlache, die jene Stelle markierte, an der den Bauern die Sinne verlassen hatten. Der Seifritz-Hof war zum Schauplatz geworden und wurde als solcher in Besitz genommen. Wispernd und mit fassungslosem Blick wurden erste Theorien über das Unglück verbreitet, wurden Nasen an die dünnen Fensterscheiben gepresst, um auch des Unglücks im Inneren des Hauses anteilig zu werden. Zwischendurch, als Beweis des Entsetztseins, wurde »um Himmels willen!« aus- und die heilige Maria Mutter Gottes angerufen.
Der schwere, regungslose Körper des Bauern war gleich nach seinem Auffinden von Hans und Fritz ins Haus gezerrt worden. Danach hatte die Bäuerin den Söhnen angeschafft, eiligst nach dem Arzt zu laufen. Sie selbst blieb in der Kammer, in der ihr ohnmächtiger Mann aufgebettet war. Als sie sich ihm zuwandte, war ihr Herz eigenartig ruhig, und plötzlich kalt. Langsam und
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