Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
Vom Netzwerk:
niederpressend, schonungslos. Ein nacktes Tier, sich rekelnd, be­rauscht, über Silvia gebeugt.
    Die Szene wie eingefroren in Jakobs Kopf. Die Zeit angehalten, von irgendwoher. Wie schlafend lag das Mädchen auf der Tischplatte, das Gesicht nach unten gekehrt. Jakob glaubte ein Weinen zu hören, ganz leise nur. Er wusste, dass es nicht recht war, was hier geschah, ahnte, dass er eingreifen müsste, Silvia, seiner Silvia, helfen müsste. Aber da zuckte wieder dieses Gefühl in seinem Inneren. Er fühlte, dass sein Körper begann, hart zu werden, die Muskeln fingen an, seine Arme zum Schutz nach oben zu ziehen, und sein Körper begann, ein Panzer zu werden gegen diese Welt.
    »Schleich dich, du Trottel!«, schrie der Bauer. Da erst bemerkte Silvia, dass Jakob in der Kammer war, sie drehte das Gesicht in seine Richtung, verzagt, feuchte Augen.
    Jakob sah, dass in diesen Augen ein Tod vor sich ging, sah, dass der Glanz, der stets in diesen Augen war, dass dieser Glanz an Kraft verlor, dabei war zu verblassen, für alle Zeit. Jakob bemerkte, dass er bereits in Erinnerung war an Silvias Augen, gerade so, als wären sie nicht mehr. Dabei ist Silvia doch alles für mich, überlegte er, sie ist doch: das Allerwichtigste.
    Das Allerwichtigste, wiederholte Jakob, doch da hatten sich seine Augen bereits geweitet, da war die Gewissheit bereits in ihm, und die Eindeutigkeit. Und es brauchte keine Gedanken mehr, keine Überlegung, kein Gut und kein Schlecht. Als diese Gewissheit, diese Liebe kam, da löste sich das Zucken und das Ziehen in seinem Körper, wich die Starre, glitt aus ihm, völlig und ganz. Gemessenen Schrittes ging Jakob auf den Seifritz-Bauern zu, riss ihn kraftvoll an den Haaren nach hinten, und dann merkte er, wie seine Faust tief in das Gesicht des Bauern fuhr.
    ***
    Es war kein gutes Gefühl, als ich zum ersten Mal ein Lebe­wesen geschlagen habe. Aber es war notwendig. Und ich habe noch mehr getan. Weil noch mehr notwendig gewesen ist.
    Der Seifritz-Bauer ist bewusstlos am Boden gelegen. Ich habe mich um Silvia kümmern wollen, aber sie hat ihre zerrissenen Kleider zusammengerafft und geschrien: »Geh weg, geh schnell weg, Jakob! Der Vater bringt dich sonst um!« Komisch, aber ich war ganz ruhig. Und darum habe ich auch ganz ruhig antworten können. Ich habe gesagt: »Nein, Silvia, ich kann nicht gehen, sonst tut er dir noch einmal was an.« Silvia hat mich gedrängt, ich solle gehen, angefleht hat sie mich darum. Stell dir vor, nach allem, was ihr angetan worden ist, hat sie an mich gedacht. Das hat meinem Herz einen Stich gegeben, vor Schmerz, und weil ich begriffen hab, wie lieb sie mich hat.
    Dass ich ruhig geblieben bin, ist, glaube ich, an der Gefahr gelegen, die noch im Raum war, und die ja jederzeit hat erwachen können. Meine plötzlich ernste Stimme und meine neue Ruhe haben mich überrascht, als ich gesagt hab: »Silvia, ich geh nicht, er wird dir sonst wieder was antun. Ich kann nie wieder gehen. Ab heute muss ich immer auf dich aufpassen. Immer.« Kaum habe ich zu Ende gesprochen, hat Silvia traurig den Kopf geschüttelt und im selben Moment habe ich erkannt, dass es unmöglich ist, sie keine Minute mehr aus den Augen zu lassen. Irgendwann würde sie ja doch wieder allein sein mit ihm, irgendwann würde es wieder passieren. Da ist aus meiner neuen Ruhe wieder ein Rauschen geworden, und ich habe gefürchtet, dass ich die Gewalt über mich verliere, dass sich mein Körper wieder versteinert, aber das war Gott sei Dank nicht so. Plötzlich habe ich gewusst, was zu tun ist. So sicher habe ich’s gewusst, als wär’s bereits vollbracht. Meine Hand hat die Hahnenkralle umfasst, die mir Fabio vor Jahren geschenkt hat, und die ich seit damals immer im Hosensack getragen habe, ohne sie auch nur ein einziges Mal zu benutzen. Ich bin die zwei, drei Schritte zum Seifritz-Bauern gegangen. Er ist gerade aufgewacht und hat benommen die Augen geöffnet. Kurz habe ich ihn angeschaut, und dann habe ich ihm mit zwei festen Krallenhieben Hodensack und Glied zerrissen.
    Silvia ist der Schreck in den Augen gestanden, über mich, und das, was ich getan habe. Aber über ihr Gesicht ist auch ein Schatten Genugtuung geflogen, als ihr Blick den Bauern gestreift hat, der sich am Boden gewunden hat in seinem Blut, der gegreint hat und gewinselt wie ein sterbendes Tier. Dann hat Silvia wieder mich angeschaut, lange und staunend. Ich glaube, weil ihr klar geworden ist, dass gerade eine lange, fremde Herrschaft gebrochen

Weitere Kostenlose Bücher