Milchfieber
begann zu erzählen. Von der Angst, die immer noch in ihr stecke und dem dummen Grinsen dieses Ungeheuers, der mit seinen Leukoplastfingern nach ihr grapschen wollte. Außerdem wolle sie morgen wieder nach Hause, wenn hier so ein Schwein frei herumlaufen könne.
Allmers war ratlos. Er konnte Nina verstehen, Klausi war bei den Schülerinnen des Dorfes ebenso verhasst, weil er sich ihnen auch ab und zu mit dem Fahrrad bedrohlich näherte.
„Ich fände es schade, wenn du fahren würdest“, sagte er und war ein wenig deprimiert. Es war ihm klar, dass er sicher nicht der Richtige war, wenn es Probleme junger Mädchen zu lösen gab, aber hier lag das Problem ja anders.
„Ich rede mit ihm“, schlug er vor.
„Kennst du den etwa gut?“, fragte Nina entsetzt. „Solche Typen gehören zu deinem Bekanntenkreis?“
„Du wirst es kaum glauben, aber er ist ein alter Freund von mir.“
Nina sah ihn ungläubig an: „Der sieht doch aus, als ob er irgendwo ausgebrochen wäre.“
„Klaus ist harmlos“, versuchte Allmers sie zu beruhigen. „Er hat sich noch nie etwas zu Schulden kommen lassen. Er ist ein bisschen sonderbar, das stimmt, aber sonst ganz okay.“
„Ich finde nicht, dass es ganz okay ist, wenn man jemandem auf dem Rad Angst einjagt. “
„Ich kenne ihn schon ewig.“
Die Zeit der „Drei Muskeltiere“ war mit der Grundschulzeit zu Ende gegangen. Zuerst waren sie zu viert gewesen, aber ein Junge aus ihrer Klasse wollte eines Tages nicht mehr mitmachen. Er kam aus dem Dorf und hatte keine Lust mehr, jeden Tag zu Fuß oder mit den Rädern durch die Felder und das Moor zu streifen.
Der Name ihrer Kinderbande stammte von Hans-Georg, der irgendwann im Radio ein Hörspiel über den Roman von Dumas gehört und statt „Musketiere“ immer „Muskeltiere“ verstanden hatte. Der Name imponierte ihm so, dass er seine Freunde überredete, sich ebenso zu nennen: Die Vier – später erfolgte eine feierliche Umbenennung in Drei – Muskeltiere.
Horst Winkler und Hans-Georg Allmers besuchten dieselbe Klasse, Klausi war zwei Jahre jünger. Nach der Grundschulzeit kam Horst in die Hauptschule, Hans-Georg wechselte in die Realschule und Klausis Lernschwäche führte ihn noch in der zweiten Klasse zur Sonderschule.
Seine Sturheit und die Weigerung, am Unterricht teilzunehmen, Hausaufgaben zu machen oder sich überhaupt einmal zu äußern, ließen die Lehrer verzweifeln. Kinder aus seiner Klasse erzählten mit einer Mischung aus Angst und Bewunderung von seinem Starrsinn, der seinen Höhepunkt fand, als ein Lehrer im zweiten Schuljahr die Kinder aufgefordert hatte, ihre Hefte aus dem Ranzen zu holen.
Die Klasse beeilte sich eifrig, den Anweisungen des Lehrers zu folgen, nur Klausi regte sich nicht.
Der Lehrer war dann zu seinem Platz gekommen und hatte freundlich seine Aufforderung wiederholt.
Klausi hatte sich nicht bewegt.
Der Lehrer beugte sich dann, immer noch freundlich, hinunter, nahm die Fibel und das Heft aus Klausis Ranzen und legte es auf den Tisch: „So, Klaus, das hätten wir geschafft“, sagte er und drehte sich um.
Klausi Winkler nahm wortlos die Fibel und das Heft und stopfte es in den Ranzen zurück. Dabei verzog er keine Miene.
Irgendwann gaben die Lehrer auf. Es dauerte Jahre, bis sich Klaus in die Gemeinschaft der Klasse und ihrer Rituale einfügte. Da hatte er den Anschluss an das Lernen schon lange verpasst.
Schon in der ersten Klasse war er durch seine Sprachlosigkeit das beliebteste Opfer der Kämpfe auf dem Schulhof. Horst half ihm nie, er hielt sich immer zurück, wenn sein kleiner Bruder getreten und geschlagen wurde. Hans-Georg konnte es nicht mit ansehen und musste oft selbst Prügel einstecken, wenn er seinem Freund zu Hilfe kam.
Besonders schlimm war es in einem schneereichen Winter, als Klausi eine Schneeabreibung nach der anderen bekam. Als Hans-Georg einmal bemerkte, dass einige Kinder einen Schneeball mit frischer Hundescheiße füllten, um ihn dann in Klaus’ Gesicht zu verreiben wurde er so wütend, dass er den hilflosen Jungen mit all seinen Kräften herausprügelte und dabei einem Gegner einen Zahn ausschlug.
Klausi vergaß Hans-Georg diesen Mut nie.
Am nächsten Morgen hatte sich Nina gefangen und entschlossen, ihre Ferien doch nicht abzubrechen. Allmers war ihr dankbar, er hätte es wie eine Niederlage gegenüber seiner Schwester empfunden, wenn Nina nach Stuttgart zurückgefahren wäre. Sie hatte am Abend noch lange mit ihrer Mutter telefoniert, die Klaus Winkler
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