Milchfieber
„Mach mal die Tür auf, ich bekomme kaum Luft.“
Allmers stand auf, öffnete die Tür, die von der Küche in den Garten des Hofes hinausführte und noch Wochen später fragte er sich, warum er nicht spätestens jetzt gemerkt hatte, dass etwas mit Hella nicht stimmte.
„In den letzten Jahren ist hier zu viel passiert“, sagte er, setzte sich wieder und nahm noch ein Stück Kuchen, „vielleicht habt ihr ja Recht, dass die beiden es waren, aber ich habe einfach keine Lust mehr auf Leichen und die dazugehörigen Mörder.“
„Peter Gerlach ist auch tot“, sagte Hella leise und rührte ihren Kaffee um. Ihre Hand zitterte, dabei wurde sie grau im Gesicht.
„Soll das auch Horst gewesen sein? So sieht es jedenfalls mein Bruder.“
„Es war noch jemand im Haus, als Peter zu Horst gekommen ist“, flüsterte Hella mit schwacher Stimme und Allmers konnte sie kaum verstehen.
„Wer?“, fragte Allmers wie elektrisiert. Jetzt hatte er Feuer gefangen.
Hella sah ihn an, öffnete den Mund, sagte noch leise: „Ich wollte noch einmal Petits Fours machen“ und rutschte bewusstlos vom Stuhl.
Als Allmers hinter dem Krankenwagen her fuhr, wusste er im Grunde, dass Hella es nicht schaffen würde. Er hatte sofort über sein Handy den Notarzt alarmiert, Friedel gerufen und seine Milchkontrolle bei Dammann abgesagt. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis der Krankenwagen kam, Hella war mittlerweile dämmernd bei Bewusstsein, aber der Notarzt machte Friedel noch im Auto wenig Hoffnung. „Ein schwerer Schlaganfall“, meinte er, „typisch für Diabetiker.“
Später erinnerte sich Allmers nur noch bruchstückhaft, wie er mit Friedel durch das Krankenhaus gerannt war, immer hinter dem Krankenbett her, dass von zwei Pflegern durch die Korridore des Klinikums geschoben worden war. Friedel war kalkweiß und nur, weil sich Allmers als Sohn ausgab, war ihm erlaubt worden, bei der Erstversorgung dabei zu bleiben. Er stützte Friedel, der vor Aufregung und Sorge umzukippen drohte, verließ mehrmals den Raum mit ihm und begleitete ihn einmal zur nächsten Toilette, wo Friedel Köhler sich mit kaltem Wasser im Gesicht zu erfrischen suchte.
„Sie schafft es, oder?“, fragte er mit heiserer Stimme, aber Allmers wagte nicht zu antworten. Er hatte nur noch wenig Hoffnung.
Gegen zehn Uhr erhob sich Allmers vom Stuhl an Hella Köhlers Krankenbett und verabschiedete sich leise. Ihr Zustand war unverändert ernst und er hatte mittlerweile eingesehen, dass es wenig Sinn machte, weiter an ihrem Bett zu sitzen.
„Ich melke morgen deine Kühe“, sagte er leise zu Friedel Köhler, der ihn dankbar ansah. „Hast du meine Handynummer?“
Köhler schüttelte den Kopf: „Ich habe kein Handy, ich kann dich nicht anrufen.“
„Ich lasse meine Nummer bei der Stationsschwester, für alle Fälle.“
Allmers setzte sich in seinen Wagen und fuhr traurig nach Hause. Dass Hella sterben könnte, war in seinem Lebensplan einfach nicht vorgesehen, sie schien ihm so unersetzlich wie kaum eine andere Konstante in seinem Leben. Er musste sich eingestehen, dass sie ihm mehr bedeutete als seine eigene Mutter, ihr Tod würde ihn schwer treffen.
Erst vor ein paar Tagen war Hella noch in Hochform gewesen. Allmers war auf dem Weg zu einer Kontrolle stutzig geworden, als er auf dem köhlerschen Hof Autos sah, die er nicht kannte. Neugierig bog er ab und sah zu seinem Erstaunen, dass der Stall hell ausgeleuchtet war. Überall standen große Halogenscheinwerfer, die alles in gleißendes Licht tauchten. Allmers lehnte sein Rad an die Stallwand und trat durch die große Tür ein. Erschrocken blieb er stehen, als eine wütende Stimme ihn anbrüllte:
„Hauen Sie ab!“
Allmers hielt die Hand vor die Augen und versuchte zu erkennen, wer ihn so unhöflich begrüßte.
„Hella?“, fragte er schüchtern.
„Jetzt hauen Sie doch endlich ab“, schrie die Stimme, „Sie versauen die ganze Einstellung“.
„Komm hier her“, meinte Friedel Köhler und zog ihn in eine dunklere Ecke.
Allmers folgte Köhler und sah verwundert, wie Hella durch die Küchentür geschlendert kam, einen riesigen Käsekuchen balancierend und sich bemühte, entspannt auszusehen. Es gelang ihr nicht und sie musste den Gang wiederholen.
„Was ist hier los?“, fragte Allmers leise.
„Das soll ein Werbefilm werden für…“ Friedel Köhler stockte. „Ach, keine Ahnung. Die Leute nerven schon den ganzen Vormittag.“
„Backpulver?“, fragte Allmers. „Hefe?“
Köhler schüttelte
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