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Milchgeld: Kluftingers erster Fall

Milchgeld: Kluftingers erster Fall

Titel: Milchgeld: Kluftingers erster Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kobr , Volker Klüpfel
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weggerutscht und fühlte, wie er auf halber Strecke über das Grab an Geschwindigkeit verlor. Deutlich sah er die Gestecke auf dem Grab immer näher kommen, roch die frische, vom Regen durchnässte Erde – und legte sich mit einem lauten Krachen, das das provisorische Holzkreuz verursachte, das als Grabsteinersatz in der Erde steckte, mitten hinein. Ein stechender Schmerz in seinem Knie ließ einen grünen Blitz vor seinen Augen aufleuchten.
    Für einen Augenblick war es still. Totenstill, würde Kluftinger später einmal mit einem Schmunzeln sagen, wenn er die Geschichte erzählen würde. Aber im Moment war ihm nicht nach Lachen zumute. Er versuchte aufzustehen. Seine Beine pflügten durch den frischen Erdhügel bis sie endlich Halt fanden. Er taumelte hoch, musste sich am benachbarten Grabstein abstützen, und hinkte zur Treppe. Von dem Mann war weit und breit nichts mehr zu sehen.
    Kluftinger fluchte. Sein rechtes Bein tat höllisch weh. Er hinkte die Treppe hinauf und hielt sich dabei das Knie. Als er oben angekommen war, sah er in entsetzte Gesichter. Münder standen offen, Augen waren weit aufgerissen, niemand wagte, ein Geräusch von sich zu geben. Kluftinger sah an sich selbst herunter. Seine graue Hose war von der Graberde fast schwarz, seine Schuhe waren in zwei große Dreckklumpen gehüllt. Noch schlimmer sah seine Jacke aus. Der linke Ärmel war an der Schulter eingerissen, vermutlich als er versucht hatte, sich an dem Holzkreuz festzuhalten. Das Sterbebild einer alten Frau, das am Kreuz geprangt hatte, hing nun an Kluftingers Ärmel. Als er es sah, wischte er es mit einer hektischen, fast panischen Bewegung weg, als wäre es ein giftiges Insekt. Als es den Boden berührte, kam von irgendwo aus der Menge ein spitzer Schrei. Kluftinger bückte sich schnell, hob das Bild auf und legte es auf das zerwühlte Grab.
    Am groben Stoff seines Mantels waren zahllose Trockenblumen und Blütenblätter hängen geblieben.
    Kluftinger wünschte sich, in einem dieser Träume zu sein, in denen man auch von allen angestarrt wird, die aber einen Vorteil haben: Man kann aufwachen und alles ist vorbei. Hier war nichts vorbei. Nach wie vor waren alle Augen auf ihn gerichtet. Mit zitternden Händen pflückte er die Blumen von seinem Mantel und legte alles auf das Grab, auf dem er vor wenigen Augenblicken noch der Länge nach gelegen hatte. In einer Verlegenheitsgeste schob er mit dem unverletzten Bein etwas Erde vom Weg. Er versuchte zu grinsen, aber es wurde nur eine Grimasse.
    Er tastete mit seinem Blick die versteinert wirkenden Gesichter ab. Aus einigen glaubte er einen stummen Vorwurf herauszulesen. Dann blieb sein Blick auf einem bekannten Gesicht hängen. Es gehörte Paul, dem Posaunisten, dessen Instrument an seinem ausgestreckten Arm baumelte.
    »Spielt«, zischte Kluftinger, doch Paul konnte ihn nicht hören. Aber er verstand den flehenden Blick des Kommissars und gab seinen Musikern ein Zeichen. Die Töne, die aus ihren Hörnern klangen, wirkten wie ein Bannspruch, der die Menschen aus ihrer Erstarrung löste. Plötzlich kam wieder Bewegung in die Menge, einige fingen an, miteinander zu tuscheln, während andere sich still bekreuzigten.
    Kluftinger wollte das jetzt schnell hinter sich bringen. Zielstrebig ging er auf die Menschentraube zu, in der Elfriede Sieber stand, packte sie unsanft am Arm und schob sie vor sich her vom Grab weg. Als er am Pfarrer vorbei kam, der gerade sein Gebetbuch mit einem Ärmel seines Messgewandes zu säubern versuchte, fauchte er nur ein »Weitermachen«, ohne den Geistlichen anzusehen. Als sie eine Treppe weiter nach oben gegangen und um die Hecke aus dem Blickfeld der übrigen verschwunden waren, ließ Kluftinger seine Begleiterin endlich los.
    Er stieß einen tiefen Seufzer aus, bevor er zu sprechen begann.
    »Frau Sieber …« Kluftinger versuchte mit einer ungeheuren Kraftanstrengung, freundlich zu klingen, denn die Frau vor ihm sah völlig verängstigt aus. Sie nickte nur schnell und heftig.
    »Wer war der Mann?«
    Sie zog die Schultern langsam nach oben.
    Kruzifix, das gibt’s doch nicht, dachte Kluftinger, sagte aber ruhig: »Sie kennen ihn nicht?«
    »N … Nein, also doch, ich meine, ich habe ihn wohl schon einmal gesehen.« Die Sieber schien den Schreck über die Ereignisse langsam zu überwinden.
    »Wer war das?«, fragte Kluftinger nun etwas forscher und deutete mit der Hand in Richtung untere Friedhofsebene.
    »Also, ich habe ihn nur einmal gesehen. Zufällig. Erst vor

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