Milchmond (German Edition)
vier es hier taten. Bei ihrer Mutter war es im Prinzip ja auch ähnlich gewesen: Sie hatte immer alles perfekt organisiert und die Fäden im Hintergrund gezogen, egal ob es Einladungen für Freunde waren oder Urlaubsvorbereitungen, Konzertbesuche oder dergleichen Dinge mehr.
Ob ihr, Julia, so etwas auch läge? Sie hatte schon immer genug damit zu tun gehabt, hinter Jörgs täglichem Chaos hinterher zu arbeiten. Sie erwischte sich bei diesem Gedanken und verbot sich weitere sofort.
Die Flammen im Kamin loderten empor und sie schloss die Glastür. In der Leseecke hatte Karen Knabbersachen und Gläser aufgebaut. Es wurde ein entspannter Klönabend, bei dem sich Johannes aber nicht mehr blicken ließ. Als sie am späten Abend zu Bett gingen und Julia sich in das Gästezimmer zurückzog, verhinderte nur der Wein in ihrem Blut, dass wehmütige Erinnerungen an dieses Bett und dieses Zimmer sich ihrer bemächtigen konnten.
Der Gottesdienst begann um elf Uhr. Ihr Bruder war schon eine Viertelstunde vorher hinüber zur Kirche gegangen, um sich in der Sakristei auf den Gottesdienst vorzubereiten. Julia hatte ihm versprochen, nachzukommen. Sie folgte etwas später allein und nahm in den lichten Reihen ziemlich weit vorne Platz. Einige Leute aus dem Dorf nickten ihr freundlich zu, weil sie die Schwester ihres Pastors erkannten, andere hoben den Blick nicht. Unwillkürlich zählte sie die Köpfe der Anwesenden und kam auf achtundzwanzig Gottesdienstbesucher. Sie bewunderte Johannes, dass er, trotz der in ihren Augen kläglichen Besucherzahlen, nichts an seinem Enthusiasmus einbüßte. Für ihren Geschmack waren es zu viele leere Kirchenbänke. In Blankenese waren es immer deutlich mehr Besucher. Dann erinnerte sie sich daran, dass die Blankeneser Kirchengemeinde ungleich größer als Johannes Gemeinde war.
Die Glocken verstummten, und nach kurzer Stille setzte machtvoll die Orgel ein. Automatisch griff Julia zum Gesang-Buch. Ihr Bruder war aus der Sakristei in den Altarraum getreten und hatte unauffällig in der ersten Reihe Platz genommen. Nach der Liturgie und den Eingangs-Liedern war sie auf das Thema seiner heutigen Predigt gespannt. Sie liebte es, seinen Worten zu lauschen, denn er schaffte es meistens, ihr Herz mit seinen Worten zu berühren und ihren Geist zum Nachdenken anzuregen.
Ihr Bruder begann gerade mit der Predigt, als sie im Hintergrund die schwere Kirchentür klappen hörte. Dass die Leute nie pünktlich sein können, dachte sie unwillig. Johannes, der bei dem Geräusch nur kurz aufschaute und lächelte, schien das nicht zu stören. Er zitierte eine bekannte Bibelstelle aus dem Johannes Evangelium:
Und wer da ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein... und dann folgte seine Auslegung des Textes. Johannes hatte sich offensichtlich das Thema Schuld und Vergebung für die heutige Sonntagspredigt vorgenommen. Dabei schaute er ihr wiederholt in die Augen, als sei der Text speziell für sie gemacht. Das würde sie ihm zutrauen...
...Wer da aber bittet: Herr vergib mir, der sollte sich erst fragen, ob auch er bereits vergeben hat - sich selbst und seinen Schuldigern! Was du anderen tust, wird dir getan werden!, spricht der Herr. Wer nicht vergeben kann, der vergiftet nur sein eigenes Herz…
Mit einem Mal wusste Julia sicher, dass Johannes das Thema der heutigen Predigt nur für sie, Julia, geschrieben hatte. Sie ließ zu, dass ihre Gedanken zu Jörg, Sylvia und Tobias zurückkehrten. War diese ganze Tragödie, die ihr geschehen war, vielleicht Teil eines höheren Plans? Vielleicht musste sie wirklich erst lernen vergeben zu können, damit sich ihr das Leben in seiner ganzen Fülle offenbarte. Sollte das der Schlüssel für eine glückliche Zukunft sein? Sie wusste, dass ihr Bruder von der Vorstellung erfüllt war, dass nichts, aber auch gar nichts, auf dieser Welt bloß zufällig geschah...
Plötzlich begann Jörg ihr auf eine seltsame Weise Leid zu tun. Sie war es, die ihn zuerst verletzt hatte und sie war schon deshalb nicht frei von Schuld, weil sie es zugelassen hatte, sich in einen anderen Mann zu verlieben. Das war ganz eindeutig Ehebruch. Konnte andererseits eine Liebe, die so heftig, wie ihre Liebe zu Tobias war, nicht ausschließlich nur von Gott kommen? Stand nicht Gott für die Liebe an sich? Und Sylvia? Was war ihr in ihrem bisherigen Leben widerfahren, dass sie nach solchen Mustern handelte? War sie wirklich so bösartig, wie es schien? Handelte sie eventuell
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