Milchmond (German Edition)
Zimmer.
Kurze Zeit später füllten die Töne ihres zarten Spiels das Haus. Julia kannte das Stück nicht. Es war melancholisch und sprach von Liebe, Wehmut und von Sehnsucht, vor allem aber von Liebe. Und plötzlich erinnerte sie sich, warum sie vorhin im Traum vor Glück geweint hatte:
Sie hatte von dem kleinen Windel-Po-Kind am Wyker Strand geträumt. Nur, dass nicht ein Ball von dem Kind auf sie zugeflogen kam, sondern das Kind kam mit der Kasperpuppe in der Hand, watschelnd auf sie zugestolpert und die dunklen Augen der Kleinen hatten ihr stumm eine Frage gestellt...
Bei diesem Gedanken erschauerte Julia, ihre Augen wurden feucht und sie bemerkte, wie ihr Herz mehrere aufgeregte Stolperschläge machte.
Ihre Mutter spielte nur das eine Stück. Es war lang und dasselbe Thema wurde auf unzählige Weisen wiederholt, verändert, abgewandelt, neu aufgenommen. Es hörte sich an, wie ein Reigen tanzender, melancholischer Feen, deren Zaubergesang in dieser Melodie zu ihr herüber wehte.
Nachdem Stille eintrat, hörte sie die festen Schritte von Johannes auf dem Flur. Er steckte seinen Kopf zur offenen Tür herein. »Darf ich reinkommen? Ich habe Neuigkeiten!« Sie nickte ihm einladend zu. Er schloss die Tür leise hinter sich und zog den Sessel dichter an ihr Bett heran. »Du siehst etwas besser aus, Schwesterlein. Ich habe mich entschlossen bis morgen Nachmittag hier zu bleiben. Dann muss ich zurück, um meine Predigt für den Sonntagsgottesdienst vorzubereiten. Vielleicht geht es dir morgen so gut, dass du Lust hast mitzukommen? Du warst lange nicht mehr in einem meiner Gottesdienste. Wie wär's?«
»Ich weiß noch nicht, Johannes. In meinem Kopf ist soviel Chaos, ich kann überhaupt keinen klaren Gedanken fassen«
»Hm... das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass dir noch einige Informationen fehlen und du deshalb nur auf Spekulationen angewiesen bist. Ich könnte dich auf den neuesten Stand bringen, wenn es dich interessiert...?«
»Was heißt, auf den neuesten Stand bringen? Was kannst du wissen, was ich nicht weiß?«
»Na, nehmen wir nur einmal zum Beispiel die Geschichte von Jörgs Meniskusoperation. Du hast Tobias nicht geglaubt, stimmt's?« Julia fiel auf, dass er zum ersten Mal den Vornamen von Tobias so gebrauchte, als würde er ihn persönlich kennen.
»Was kannst du denn darüber wissen? Du kennst die Hintergründe doch gar nicht, bis auf das, was ich dir erzählt habe.«
»Doch, ich weiß mittlerweile mehr als du denkst, ich habe Tobias vorhin persönlich kennen gelernt und wir haben uns ausführlich unterhalten. Er macht übrigens einen sehr guten Eindruck auf mich, Schwesterlein.«
»Was? Ihr habt miteinander gesprochen?« Der Unglauben in ihren Augen entging ihm nicht.
»Ja, er tauchte hier auf, als Doktor Prenzler gerade das Haus verließ. Ich konnte ihn zum Glück vor dem Haus abfangen, denn es wäre kein guter Zeitpunkt gewesen, wenn Vater und Mutter ihn unter diesen Umständen kennen gelernt hätten. Wir machten einen langen Spaziergang und er erzählte mir seine Geschichte. Es gibt Dinge, die du noch nicht weißt. Nun? Bist du interessiert?«
Schon, als er den Namen Tobias so vertraut aussprach, waren ihre Schmerzen wieder da. Aber zum Glück, nicht so stark, wie beim gestrigen Telefonat. »Ich höre dir zu, Johannes, auch wenn ich die Augen geschlossen habe. Sprich nur weiter!« Mit müder Stimme gab sie ihm ihr Einverständnis, fortzufahren.
Johannes räusperte sich, dann begann er: »Okay, fangen wir damit an, wie Tobias auf das Komplott seiner Exfreundin und Jörg gekommen ist. Er sagte mir, er hätte dir nichts davon erzählt, dass er, ein halbes Jahr bevor ihr euch kennen gelernt habt, sechs Jahre mit einer Sylvia befreundet war. Getrennte Wohnungen, getrennte Leben, aber viele gemeinsame Urlaube und so weiter. Er hatte sie heiraten wollen und ihr zweimal einen Antrag gemacht. Sie lehnte ab, weil sie seine Vorstellungen von Familiengründung und Häuschen im Grünen nicht mittragen wollte. Das sei ihr zu spießig!, hatte sie ihn wissen lassen. Daraufhin haben sie sich getrennt, weil Tobias fest entschlossen ist, eine Familie zu gründen. Er hat das Gefühl, dass er sonst langsam zu alt dafür ist. Sie hatten daraufhin auch keinen Kontakt mehr zueinander. Das änderte sich erst wieder, nachdem du den Anruf aus der Uniklinik wegen Jörg bekamst. Da gab sich diese Sylvia dir gegenüber bereits als falsche
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