Milchmond (German Edition)
aufgeflogen.
Draußen, vor dem Hauptportal, hielt er einen Augenblick in seinem raschen Gang inne und sog die kühle Hamburger Abendluft tief in sich hinein. Er zwang sich zur Ruhe. So, das hatte er jetzt auch hinter sich gebracht! Er war eigentlich noch viel zu nett zu ihr gewesen; sie hatte noch härtere Worte verdient gehabt, aber wieder brach sein Anwaltsverstand durch die aufwallenden Emotionen; jeder weitere Zornesausbruch wäre nur seiner persönlichen Befangenheit geschuldet. Immer schön sachlich bleiben, Herr Rechtsanwalt!, ermahnte er sich und ging, erleichtert, diese Etappe seines Lebens endgültig hinter sich zu lassen, hinüber zum Parkplatz.
Jetzt gab es nur noch eines zu tun: Es musste ihm unter allen Umständen gelingen, Julia zurück zu erobern, aber wie?
Kapitel 30
Sie musste nach dem langen Gespräch mit Johannes eingeschlafen sein, denn sie erwachte erst wieder am späten Nachmittag, geweckt durch den köstlichen Duft einer frischen Hühnersuppe, die ihre Mutter für sie gekocht hatte.
Ihr Schlaf war unruhig - von wirren Träumen durchsetzt, an die sie sich jetzt aber partout nicht erinnern konnte. Sie wusste nur, dass es eine Traumsequenz gegeben hatte, in der sie vor Glück weinte. Was war das nur? Angestrengt bemühte sie sich zu erinnern.
»Komm Kind! Ich habe dir etwas Schönes gekocht, das wird dich stärken!« Ihre Mutter setzte sich auf den Bettrand und hielt ihr eine dampfende Suppentasse unter die Nase. Julia richtete sich auf, nahm die Tasse und begann zu löffeln, und wirklich - die Suppe schien ihr neue Lebenskraft zurückzugeben. Schweigend sah ihre Mutter ihr beim Essen zu. Als sie fertig war, nahm sie ihr die Tasse wieder ab und stellte sie beiseite. Ihre warme Hand tätschelte Julias Wange und Stirn, so, wie sie es vor langer Zeit, als sie, Julia, noch klein war, auch immer getan hatte. »Geht es dir ein wenig besser, mein Kind?«
»Ja, danke, Mama. Es ist schön, wieder hier in meinem alten Bett zu liegen und bei euch zu sein. Danke, Mama!«
»Was hat dir nur das Herz so gebrochen? Willst du mir das nicht erzählen?«
Julia schüttelte unmerklich den Kopf und zog die Decke höher bis ans Kinn. Sie konnte nicht. In ihrem Kopf spukten gegensätzliche Einschätzungen und Verurteilungen herum: War sie selbst wirklich nur Opfer oder auch Täterin? Sie war sehr verletzt worden, fühlte sich andererseits aber auch schuldig, denn eigentlich war sie Jörg und zugleich auch Tobias gegenüber fremdgegangen, hatte beide gegenseitig miteinander betrogen, wie man es auch immer sehen wollte. Hatte sie Jörg in diese Bedrouille gebracht, dass er keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte, als sie durch diesen Betrug an sich zu binden? Wie furchtbar war das alles? Dann hatte sich ihr Herz für Tobias entschieden, den sie durch ihren ersten Brief auf Abstand zu halten versuchte, der sich aber dann mit seiner Exfreundin verlobte. War sie daran schuld? Hatte sie nicht, entgegen ihrer Gefühle, doch noch einmal mit Jörg geschlafen? Sie hatte also auch Tobias betrogen. An diesem Punkt hörte sie auf zu denken, sie bekam einfach keine Ordnung mehr in ihren Kopf. Alles wirbelte im Kreis herum:
Schuldig – unschuldig - schuldig?
»Mama, bitte sei nicht gekränkt; ich kann noch nicht darüber reden! Gib mir noch etwas Zeit, ja?«
»Immerhin hast du ja anscheinend Johannes ins Vertrauen gezogen. Es ist gut mit jemanden zu sprechen, wenn man gerade nicht weiß, was mit einem geschieht. Johannes bat uns schon darum, dass wir dich nicht drängen sollen. Wir würden zum richtigen Zeitpunkt erfahren, was passiert sei, und da hat er sicher Recht. Ich freue mich so, dass ihr beide ein so gutes Verhältnis zueinander habt. Bewahrt euch das möglichst für euer ganzes Leben, Julia! Geschwisterliebe begleitet dich und gibt dir Geborgenheit und die Sicherheit, dass jemand für dich da ist, wenn du Hilfe brauchst und wir, Papa und ich, einmal nicht mehr da sein werden, um euch beschützen zu können.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Wenn du so weit bist, dass du darüber sprechen möchtest, sagst du einfach Bescheid, ja? Und nun Schluss mit den trüben Gedanken! Ich habe Lust, ein wenig auf dem Flügel zu spielen, magst du durch die offene Tür zuhören?«
»Oh ja, gern, Mama! Spiel nur, ich höre dir so gerne zu!«
Ihre Mutter stand auf und drückte noch einmal mitfühlend ihre Hand. Dann verließ sie mit dem Tablett das
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