Milchrahmstrudel
Dunkelheit gefangen lag, entschied Luise Rot, sich persönlich auf die Suche nach ihr zu machen. Resolut packte sie die Räder des Rollstuhls und begann, sie zu drehen. Langsam rollte sie aus ihrem Zimmer, wo sie die Tür hinter sich einfach offen stehen ließ. Sie kämpfte sich zum nächstgelegenen Fahrstuhl, manövrierte sich hinein und drückte den Knopf mit der Aufschrift » EG «.
Als sich die Türen des Aufzugs wieder öffneten, sah sie sich dem Stamm einer Topfpflanze gegenüber.
Luises Blick glitt an ihm entlang und blieb an einem Korb hängen, der sich an den Keramiktopf lehnte, aus dem der Stamm wuchs.
Sie rollte näher und schaute in den Korb hinein.
»Marillen.« Nachdenklich wiederholte sie das Wort, das sie auf dem Etikett an einem der Gläser im Korb entziffert hatte.
Während Fanni im Kühlkatafalk Rolands Handy befingerte, wobei sie auf jede Taste drückte, die sie aufspürte, und während Luise in den Korb mit den Marmeladegläsern starrte, den Fanni unter der Topfpflanze abgestellt hatte, öffneten zwei Mitarbeiter eines Bestattungsinstituts die Tür, die vom hinteren Parkplatz in die Katherinenresidenz führte, und schoben eine Rollbahre herein. Luise war sofort klar, wo sie hinwollten, deshalb rollte sie, um ihnen Platz zu machen, kurzerhand wieder in den Aufzug, blockierte jedoch absichtlich mit den Vorderrädern die Türen.
Die beiden Bestattergehilfen betraten den Aussegnungsraum, rochen das Duftöl, das versprüht worden war, und das Wachs, das von zwei Kerzen tropfte, die auf dem gobelinbedeckten Kühlkatafalk brannten. Der Raum war penibel aufgeräumt und eines aufgebahrten Toten würdig.
Überrascht stellten die beiden jedoch fest, dass die Verstorbene schon eingesargt war, dass der Sarg bereits geschlossen und der Deckel sogar verschraubt war. Das sparte ihnen natürlich wertvolle Zeit.
Einer der beiden Gehilfen schob die mitgebrachte Rollbahre neben das Podest mit dem Sarg. Der andere griff nach dem Bukett aus künstlichen Lilien, das den Sargdeckel schmückte, und stellte es zwischen die Kerzen auf den Kühlkatafalk.
Als er sich wieder umdrehen wollte, begann gedämpft ein Handy zu klingeln.
Der Bestattergehilfe stutzte, weil ihm aufging, dass der Klingelton nicht von hinter ihm kam, wo der Kollege soeben den Sarg vom Podest auf die Rollbahre gleiten ließ, sondern von direkt vor ihm.
Irgendwo unter den brennenden Kerzen orgelte ein Handy »We are the Champions«.
»Im Kühlkatafalk klingelt ein Handy«, sagte er verwundert zu seinem Kollegen.
Der zuckte die Schultern. »Da liegt halt einer drin. Deshalb hat sich die Katherinenresidenz ja eine Kühlung angeschafft, damit man einen frisch halten kann, während ein anderer aufgebahrt ist. Manchmal kommt es vor, dass zwei kurz hintereinander sterben. Dann wird eben einer gekühlt, bis der andere weg ist.«
»Ja, ja, ja, weiß ich ja«, antwortete der andere gereizt. »Aber wieso kühlen die einen mitsamt seinem Handy?«
Wieder zuckte der Kollege die Schultern. »Ist doch egal. Komm endlich, wir haben noch eine Leiche im Paulusheim.«
Der Klingelton verstummte.
Widerwillig wandte sich der Bestattergehilfe vom Katafalk ab und schickte sich an, seinem Kollegen dabei zu helfen, die Rollbahre aus dem Raum zu schieben.
Sie kamen nicht weit.
Der Ausgang wurde von einem Rollstuhl blockiert, in dem eine Gestalt ganz in Rosa saß, die mit den Armen fuchtelte. »Fanni! Sie muss da drin sein.«
Es dauerte eine Weile, bis die Bestattergehilfen begriffen, dass die alte Frau nicht gekommen war, um einen letzten Blick auf eine verstorbene Freundin zu werfen, sondern um die hoffentlich lebendige Fanni Rot zu finden.
»Hier ist niemand«, beschieden ihr die Bestattergehilfen.
»Nur eine Leiche im Sarg«, spezifizierte der eine.
»Und eine zweite im Kühlkatafalk. Da hat nämlich ein Handy geklingelt«, ergänzte der andere und deutete auf die gobelinverbrämte Kühlanlage.
Die Frau in Rosa starrte ihn an. »Eine zweite Leiche?«
»Ja, das kann doch vorkommen, dass mal zwei kurz hintereinander sterben«, wiederholte der Bestattergehilfe, was er schon zuvor zu seinem Kollegen gesagt hatte.
Die Frau schüttelte so ungestüm den Kopf, dass sich die silberne Spange über ihrem linken Ohr löste und mit einem leisen »Klack« zu Boden fiel. »Vor gut einer Woche ist Bonner gestorben, und der ist längst beerdigt. Vorgestern hat der Nagel das letzte Stündlein geschlagen, und ich gehe davon aus, dass die in dem Sarg da liegt. Morgen
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