Miles Flint 01 - Die Verschollenen
ihm, als wäre sie wieder seine Anwältin.
»Gut, denn ich könnte mich bemüßigt fühlen, es Ihnen zu erklären. Es ist wirklich brillant, und so etwas sollte man immer teilen.«
Ekaterina hatte vergessen, wie die Worte über seine Lippen zu strömen pflegten, klug, warm und melodisch. Shamus war schon immer ein Charmeur gewesen. Das war einer der Züge, die ihr an ihm gefielen.
»Irgendwie habe ich so ein Gefühl, als wären Sie nicht in Ihrer offiziellen Funktion hier«, sagte er. »Wären Sie vor sechs Monaten in offizieller Funktion hier gewesen, dann hätte ich nicht lernen müssen, wie man die Dinger abnimmt.«
»Warum haben Sie mich nicht gerufen?«, fragte sie.
Er zuckte mit den Schultern. »Erde, Mond, Kosten. Sie wissen schon. Der Job zahlt sich nicht mehr so gut aus wie früher.«
»Mit anderen Worten, dieses Mal müssen Sie Ihre juristische Rechnung selbst begleichen.«
Er nickte. »Und sehen Sie, wohin mich das gebracht hat?«
Sie lächelte. Hätte sie sich noch wie sie selbst gefühlt, hätten das fast ihre Worte sein können. Aber derzeit hatte sie kaum das Recht, sich irgendjemandem gegenüber als überlegen aufzuspielen.
Shamus lugte über die Hecke, legte den Arm um Ekaterinas Schultern und zog sie tiefer herab. Sollte irgendjemand sie beobachten, würde er denken, sie wären ein Liebespaar.
»Sie sind in sämtlichen Netzen«, sagte er. »Überall gibt es Videos von Ihnen, und ich würde mich nicht wundern, wenn Ihr Bild auf den Gebäudetafeln zu sehen wäre.«
Gebäudetafeln waren Wandbereiche, die an Unternehmen vermietet wurden, welche dort Bilder projizierten – normalerweise zu Werbezwecken, aber manchmal wurden sie auch dazu benutzt, die neuesten Nachrichten zu verbreiten.
»O Gott«, stöhnte sie. »Was soll ich denn jetzt tun?«
»Schlau sein«, antwortete Shamus. »Und so, wie sich das alles anhört, waren Sie das bisher auch.«
Ekaterina lehnte sich bei ihm an, erleichtert, endlich mit einem anderen menschlichen Wesen reden zu können, auch wenn es nur Shamus war. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie sich vorstellen, es wäre Simon. Der liebe Simon, der vermutlich keine Ahnung hatte, was ihr widerfahren war.
»Sie haben doch einen Plan, oder?«, fragte Shamus, und Ekaterina erkannte an seinem Tonfall, dass er hoffte, sie wäre nicht schon mit ihrem Besuch bei ihm am Ende ihrer Weisheit angelangt.
Sie schluckte, versuchte, die Kraft wiederzufinden, die sie verloren hatte, als sie den Reif an seinem Knöchel gesehen hatte.
Den ganzen Tag hatte sie über ihr weiteres Vorgehen nachgedacht. »Kennen Sie irgendwelche Lokalisierungsspezialisten?«
Lokalisierungsspezialisten waren Privatdetektive, die sich ausschließlich mit Verschwundenen befassten. Normalerweise arbeiteten Lokalisierungsspezialisten für Anwälte oder Versicherungsgesellschaften und suchten nach Verschwundenen, die eine Erbschaft antreten sollten oder Begünstigte einer Versicherungspolice waren. Manchmal wurden sie auch von Familien beauftragt, die einem Verschwundenen mitteilen wollten, dass er nicht mehr gesucht wurde und nach Hause zurückkehren konnte.
»Lokalisierungsspezialisten?« Shamus Stimme wurde lauter. Mit dieser Frage hatte er offensichtlich nicht gerechnet. »Wozu?«
»Ich muss von hier verschwinden. Ich habe Geld, aber ich kann nur einmal darauf zugreifen; also dachte ich, wenn ich jemanden bezahle, damit er mir hilft zu verschwinden, bin ich aus dem Schneider.«
»Lokalisierungsspezialisten helfen niemandem zu verschwinden«, sagte Shamus. »Sie finden Leute, die verschwunden sind, und das üblicherweise zu einem happigen Preis.«
»Ich weiß.« Ekaterina bemühte sich um ein tapferes Lächeln. Der Plan klang lächerlich, nun, da sie ihn laut aussprach. »Aber sie wissen, welche Verschwindedienste die besten sind.«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Shamus. »Und dann lügen sie Sie an. Sie werden Sie zu irgendjemandem schicken, der kaum imstande ist, einen Hundeknochen zu verstecken, und dann werden sie sich von irgendjemandem, der Sie sucht, dafür bezahlen lassen, Sie wieder aufzuspüren.«
»Ich kenne die Risiken.« Ekaterina fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Es fühlte sich rau an, als hätte sich ein Teil des Drecks in dem verlassenen Haus darin festgesetzt. »Aber zumindest auf der Erde gibt es ein paar Lokalisierungsspezialisten, die angeblich ehrlich sind.«
»Es gibt welche, die zumindest versuchen, ehrlich zu sein«, sagte Shamus, »aber für den richtigen Preis
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