Miles Flint 01 - Die Verschollenen
können.
Hätte Ekaterina gewusst, dass die Bestimmungen hier so lax waren, dann hätte sie noch ein paar andere Dinge mitgenommen. Vielleicht ihren Verlobungsring oder die kleine silberne Anstecknadel, die einer ihrer Vorfahren aus der Maakestadlinie im siebzehnten Jahrhundert angefertigt hatte.
Ein oder zwei Kleinigkeiten, die sie an Zuhause erinnerten.
Natürlich war das exakt das, was sie nicht hatte tun sollen. Exakt das, was die meisten Leute, die geschnappt wurden, doch getan hatten, wie ihr der Beauftragte von Disappearance Inc. erzählt hatte. Sie hatten ihre Vergangenheit nicht loslassen können, ihre alten Identitäten.
Sie wurden geschnappt, weil sie nicht begriffen hatten, wie wichtig es war, als eine andere Person wieder geboren zu werden. Kein Gepäck, kein vergangenes Leben, nichts, als die Person, die Disappearance Inc. für ihren Kunden festlegte.
Sie müssen vergessen, wer Sie waren, hatte der Beauftragte Ekaterina gesagt. Und Sie müssen jemand anderes werden.
Das konnte Ekaterina schaffen. Seit dem ersten Gespräch mit den Leuten von Disappearance Inc. vor drei Wochen wusste sie das. Und vielleicht hatte sie es sogar schon gewusst, ehe sie an diese Leute herangetreten war.
Trotzdem war es ein merkwürdiges Gefühl, ausschließlich auf ihr inneres Selbst reduziert worden zu sein. Nichts würde mehr sein, wie es war, nicht ihr Job, nicht ihr Name und vielleicht, sollte das Unternehmen es für notwendig halten, noch nicht einmal ihr Gesicht. Das Einzige, was ihr bleiben würde, waren ihre Erinnerungen, und sie würde noch nicht einmal die Chance bekommen, sie mit jemandem zu teilen. Niemals.
Die Tür zum Mannschaftsbereich öffnete sich. Die Frau, die Ekaterina gesagt hatte, sie möge sie Jenny nennen, betrat den Raum. Sie war schlank, und ihre Züge waren so nichts sagend wie die von Russel. Jeder, den sie bei Disappearance Inc. getroffen hatte, war so umfassend modifiziert worden, dass er nicht mehr annähernd so aussah wie die Person, die er einmal gewesen war.
Das bereitete Ekaterina Unbehagen.
Die Tür schloss sich wieder. Jenny gab Ekaterina einen Handheld. Ekaterina war seit beinahe einer Woche nicht mehr vernetzt gewesen. Normalerweise trug sie Sicherheitschips, die sie mit dem System ihres Hauses verbanden, mit ihrem Büro und mit dem öffentlichen Netz. Sie hatte nie das ganze Paket genutzt – vollständige Vernetzung, ununterbrochen –, weil ihr ihre Privatsphäre wichtig gewesen war.
Aber nun gar nicht mehr vernetzt zu sein, erinnerte sie daran, wie einsam sie war. Sie konnte nicht einfach einen Chip aktivieren und ein Gespräch aufzeichnen, und sie konnte das Haus nicht länger mit einem stillen Befehl anweisen, den Notdienst zu rufen. Sollte Ekaterina jetzt angegriffen werden, würde sie den Angreifer allein abwehren müssen – keine Polizei, keine sofortige 911-Aufzeichnung, keine Möglichkeit, umgehend Hilfe zu holen.
Der Handheld fühlte sich hart in ihren Fingern an. Sie hatte keinen mehr benutzt, seit sie mit Hilfe eines Stipendiums das College besucht hatte, lange bevor sie sich die Sicherheitschips und die totale Vernetzung hätte leisten können.
»Was ist das?«, fragte sie, ohne auch nur einen Blick auf den Bildschirm zu werfen.
»Ihre neue Identität«, sagte Jenny. »Lesen Sie das, verstehen Sie es und bereiten Sie sich darauf vor. Wir geben Ihnen die Aliase und die Chips, bevor sie die Jacht verlassen. Einige dieser Informationen werden für Sie heruntergeladen werden, damit sie problemlos darauf zugreifen können, aber der Rest muss auf normalem Weg passieren. Sie müssen dafür sorgen, dass alles passt.«
Ekaterina nickte. Sie hatte diese Rede schon einmal gehört. Das schien ein Standardvortrag bei Disappearance Inc. zu sein.
»Wir haben alle Formulare, die Sie ausgefüllt haben, und ihr psychologisches Profil herangezogen.« Jennys Stimme klang sanft. Offenbar hatte sie diese Rede schon einige Male gehalten. »Vergessen Sie nicht, wir können nichts ändern. Das ist nicht unsere Aufgabe. Das hier ist das Beste, was DI für Sie tun kann. Nun liegt es an Ihnen, dafür zu sorgen, dass es funktioniert.«
Sie bedachte Ekaterina mit einem falschen Lächeln und erhob sich.
»Haben Sie das gelesen?«, erkundigte sich Ekaterina.
»Es ist kodiert«, antwortete Jenny. »Sie müssten vor der Abreise ein Passwort erhalten haben.«
Das hatte sie, aber sie wollte Jennys Antwort noch einmal überprüfen.
»Dann sind wir also beinahe da«, sagte
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