Miles Flint 02 - Die Lautlosen
Haben Sie mal darüber nachgedacht?«
Wagner senkte den Blick, und Flint verpasste den Moment, in dem er einen Augenkontakt hätte herstellen können. Aber er wollte Wagners wahre Reaktion sehen.
»Theoretisch«, sagte Wagner, »fällt sie in den Verantwortungsbereich meines Bruders.«
»Ihr Bruder wird ihr ihr Erbe auszahlen, wird ihr bei ihrer Verteidigung helfen und sie möglicherweise dabei unterstützen, erneut zu verschwinden.«
Zum ersten Mal, seit Wagner sein Büro betreten hatte, erhob sich Flint. Die Bewegung schien Wagner zu erschrecken.
»Denken Sie noch einmal genau nach«, forderte Flint ihn auf.
Wagners Schultern waren herabgesackt, der Rücken krumm, als wolle er das alles gar nicht hören.
Flint umrundete den Schreibtisch. Wagner blickte auf und schluckte schwer.
»Wenn ich Tey finde und beweisen kann, dass sie Tey und diejenige ist, die Rabinowitz infiziert hat, und sei es nur mit einer weniger gefährlichen Version des Virus, der all diese Leute in der Kuppel umgebracht hat, dann ist sie der Verbrechen schuldig, derer sie beschuldigt wird.«
»Nein«, widersprach Wagner eine Spur zu schnell. Also hatte auch er schon darüber nachgedacht. »Das bedeutet es nicht. Es bedeutet nur, dass sie dieses einen Verbrechens schuldig ist. Einer fährlässigen Tötung, sollte sie nicht gewusst haben, dass das Virus tödlich ist.«
»Und Mord, falls sie es doch gewusst hat«, gab Flint zurück. »Und sie hätte es getan, um sich selbst in Sicherheit zu bringen.
Normalerweise greifen die Leute bei Mord nicht auf eine so elegante Waffe wie eine Krankheit zurück. Und eine elegante Krankheit schließt ein Verbrechen aus Leidenschaft grundsätzlich aus. Wenn das, was Sie mir erzählt haben, wahr ist, dann ist Rabinowitz langsam gestorben. Tey hätte die Möglichkeit gehabt, einen Rückzieher zu machen, sobald ihre Leidenschaft abgekühlt wäre. Und die Möglichkeit ihn und andere zu warnen. Das hat sie nicht getan.«
Wagner musterte ihn mit neutralem Gesichtsausdruck. Flint konnte nicht beurteilen, ob Wagner seine Worte wirklich an sich heranließ oder nicht.
»Eine Person, die kaltblütig tötet, aus rein sachlichen Motiven, ist präzise die Art von Person, die zulassen würde, dass eine ganze Kuppel voller Leute ausgelöscht wird, nur um die Ergebnisse eines Experiments nicht zu gefährden.« Flint lehnte sich an den Schreibtisch. »Und darum frage ich Sie noch einmal: Was wollen Sie, das ich tue, sollte sich die Sache wie beschrieben abspielen?«
»Wollen Sie damit etwa andeuten, Sie könnten sie umbringen?«, fragte Wagner.
Flint erschrak. Das hatte er keineswegs gemeint, aber er konnte verstehen, wie Wagner zu dieser Fehlinterpretation gelangt war.
»Nein. Ich will damit sagen, dass sie weiter morden wird, wenn wir sie Ihrem Bruder übergeben und sie erneut verschwindet.«
»Ich dachte, Sie wären kein Kopfgeldjäger«, sagte Wagner. »Ich dachte, es kümmert Sie nicht, was ein Verschwundener getan hat, und ich dachte, Sie würden niemals eine Ihrer Zielpersonen ausliefern.«
»Ich bin auch kein Kopfgeldjäger«, entgegnete Flint. »Es ist nicht meine Aufgabe, irgendjemanden auszuliefern. Aber es kümmert mich durchaus, was ein Verschwundener getan hat. Und falls diese Frau schuldig ist, dann ist sie sehr gefährlich.«
»Dann halten Sie sich von ihr fern«, sagte Wagner. »Lassen Sie nicht zu, dass sie Sie genauso kriegt wie Rabinowitz.«
Flint fühlte ein Aufwallen von Zorn. Wagner antwortete ihm nicht, zumindest nicht in der Form, die er erwartete, und Flint wusste, was das bedeutete. Es hieß, dass Flint, hätte er Tey erst gefunden, allein würde entscheiden müssen, was mit ihr geschehen sollte. Wagner wollte daran nicht beteiligt sein.
Und Flint war nicht bereit, den Fall unter diesen Bedingungen zu übernehmen.
»Ich will Ihnen etwas sagen«, erklärte er. »Sollte ich Tey finden, werde ich sie nicht wissen lassen, dass ich hinter ihr her bin. Ich werde Sie darüber informieren, wer sie ist und wo sie ist. Dann sind Sie wieder für sie verantwortlich.«
Wagner wich einen Schritt zurück, als wäre dieser Teil des Gesprächs das pure Gift für ihn. »Ich würde sie meinem Bruder überlassen müssen. Und Sie wissen, was dann passiert.«
»Sie müssen?«, fragte Flint.
»Dazu bin ich ethisch verpflichtet, wie Sie sehr wohl wissen.«
»Eigentlich weiß ich das nicht«, widersprach Flint. »Sie sind ethisch ebenso verpflichtet, die Fälle Ihrer Kanzlei vertraulich zu behandeln, und
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