Miles Flint 06 - Kallisto
mitgenommen.
Sie berührte die Wände. Da waren keine Nähte, nichts, wodurch erkennbar wäre, was die Wandplatten an ihrem Platz hielt. Warum sollte ein Beschaffer solch einen Frachtraum für sein Schiff wollen?
Als sie mit den Händen über die glatte, leicht kühle Oberfläche strich, zwang sie sich, sich alles ins Gedächtnis zu rufen, was sie über Beschaffer wusste.
Fast alle waren männlich, nur eine Handvoll Frauen hatte sich einen Weg zu diesem Beruf gebahnt, und sie waren nicht gerade ehrbare Leute. Die Aufgabe der Beschaffer bestand darin, Dinge wiederzubeschaffen, die »verloren gegangen« waren oder »vermisst« wurden, manchmal aber bedeutete vermissen lediglich, dass sie irgendeinem reichen Sammler in seiner Sammlung fehlten. Fehlten im Sinne von: »Ihm fehlt noch ein Van Gogh«, nicht im Sinne von: »Er hatte mal einen Van Gogh, der jetzt verschwunden ist.«
Beschaffer waren bestenfalls so etwas wie Trickbetrüger, schlimmstenfalls waren sie rücksichtslose Diebe, die sich auf dem Weg zu ihrer Beute durch nichts aufhalten ließen.
Und wenn man diesem Beschaffer glauben durfte, dann hatte ihn jemand dafür bezahlt, Rhonda »wiederzubeschaffen«.
Wenigstens hatte er Talia zurückgelassen.
Zumindest hatte er gesagt, er habe sie zurückgelassen.
Rhonda war nicht sicher, wie viel sie diesem Mann glauben konnte. Vielleicht war er gar nicht im Auftrag der Gyonnese gekommen. Immerhin waren ihre rechtlichen Probleme mit den Gyonnese aktenkundig und damit öffentlich.
Nun ja, in gewisser Weise. Ohne eine gerichtliche Anordnung und die Zustimmung diverser Regierungsstellen und Unternehmenssprecher würden die Akten unter Verschluss bleiben.
Vielleicht verschaffte sich dieser Mann einfach nur einen Einblick in nicht frei verfügbare Gerichtsakten, und vielleicht entführte er Leute mit einer zweifelhaften Vergangenheit, um ein Lösegeld einzufordern.
Möglich war alles. Vielleicht hatte die ganze Unterhaltung vor ihrem Haus allein den Kameras und Aufzeichnungsgeräten von Haus gegolten. Vielleicht diente die elektronische Botschaft, die er in der Tür hinterlassen hatte, nur dazu, ermittelnde Stellen auf die falsche Spur zu führen.
Vielleicht war der Kerl gar kein Beschaffer – zumindest nicht die Art Beschaffer, die ihr vorschwebte. Vielleicht war er etwas ganz anderes.
Sie hatte sämtliche Wände des Frachtraums untersucht und nichts Besonderes entdeckt: keine unsoliden Wandplatten, keine verborgenen Steuerelemente, keine tastbaren Chips, die es einer Person innerhalb des Frachtraums gestatten würden, Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen.
Ihre Links hatte sie ebenfalls bereits überprüft. Sie waren blockiert, vermutlich durch irgend etwas auf dem Schiff. Diese Wände allein sollten jedenfalls nicht reichen, sie außer Funktion zu setzen.
Wandplatten dieser Art dienten normalerweise dem Schutz vor biologischen Gefahren, Strahlen oder …
Sie erstarrte. Darüber hatte sie bis jetzt überhaupt nicht nachgedacht. Sie hatte derartige Wände schon früher gesehen. Auf Wissenschaftsschiffen, meist im Laborbereich.
Wände wie diese hatte es auf Aleyds Discovery One gegeben, dem Schiff, mit dem sie nach Gyonne gekommen war. Sie hatte in einem Labor gearbeitet, dessen Wände identisch mit diesen gewesen waren, obwohl ihre Arbeit nicht gefährlich gewesen war.
Alle Labore auf sämtlichen Schiffen von Aleyd waren mit diesen Wandplatten ausgestattet.
Es entsprach den Vorschriften.
Es war praktisch.
Es war eine Sicherheitsmaßnahme.
Sie ging in die Mitte des Frachtraums. Abgesehen von einigen leeren Frachtabteilen im Boden, war der Frachtraum vollkommen kahl. Sie war im Frachtraum, aber sie war nicht die Art Fracht, für die er gemacht war.
Sie streckte ihre Hände aus und studierte sie. Sie schienen in Ordnung zu sein. Niemand hatte die Sensorenchips oder die Informationsknoten entfernt, die sie für ihre Arbeit benötigte.
Mit einem Fingernagel löste sie einen der Sensorenchips aus der Tasche in ihrer Haut und legte ihn in die Leseeinheit hinter dem rechten Handgelenk ein.
Sofort liefen Codes über ihr Sichtfeld. Sie gab ihrem internen System die stumme Anweisung, die Informationen langsamer abzuspielen; sie wollte sie selbst lesen, statt sich auf die einseitige Analyse der Computereinheit in ihrem Handgelenk zu beschränken. Die Dinger funktionierten nicht gut – jedenfalls nicht gut genug für sie.
Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, sich lieber auf ihren eigenen Verstand zu verlassen,
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