Miles Flint 06 - Kallisto
Entführung womöglich davonkommen.
Talia spürte jedes ihrer dreizehn Lebensjahre, und sie reichten nicht. Sie waren nicht genug für so etwas.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte.
Also tat sie, was ihre Mom ihr gesagt hatte: Sie schlüpfte durch ein Fenster auf der Rückseite des Hauses hinaus und schickte eine Botschaft an den Anwalt ihrer Mom.
9
M it zitternder Hand öffnete Flint die Datei. Sie verzweigte sich in etliche Unterdateien, aber es gab auch einen Hauptdatensatz, der mit seinem Namen, mit Rhondas Namen und mit Emmelines Namen gekennzeichnet war. Und dann war da noch eine Datei mit Palomas Notizen und Überlegungen und eine, in der sie Nachrichtenbeiträge gespeichert hatte.
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Auf dem Schiff war es ungewöhnlich still. Er hatte nicht einmal Musik abspielen lassen, und die akustischen Überwachungssysteme, die er aktiviert hatte, um umgehend von möglichen Problemen Kenntnis zu erhalten, schwiegen bereits seit einer Weile.
Er könnte aufstehen und sie überprüfen. Er könnte das Cockpit verlassen und sich etwas zum Abendessen machen. Er könnte in sein Quartier gehen, das Quartier des Captains, und versuchen, wieder zur Ruhe zu kommen.
Aber nichts von alldem würde irgend etwas an diesem Augenblick ändern. Würde er diese Dateien öffnen, so würde er sich erneut in allen Einzelheiten mit Emmelines Tod auseinandersetzen müssen.
Und wenn er sie nicht öffnete, so würde er sich für alle Zeiten fragen, was sie enthalten mochten.
Er wäre gar nicht imstande, die Finger davon zu lassen. Irgendwann würde er sie öffnen. Also konnte er es auch gleich tun.
Flint atmete noch einmal tief durch und beugte sich vor. Zuerst öffnete er die Datei mit den Nachrichtenbeiträgen.
Sie enthielt einige Berichte. Die zugehörigen Zeitangaben verrieten ihm, um was es sich handelte: Bilder von ihm, wie er Emmeline vor der Tagesstätte in den Armen hielt, das kleine Gesicht, beinahe bis zur Unkenntlichkeit verfärbt und blutunterlaufen, an die Brust gelegt, ihre winzigen Hände sinnlos zu Fäusten geballt. Er hatte geschworen, dass keines anderen Menschen Tochter so sterben sollte, auch wenn er sich nach wie vor nicht erinnern konnte, diese Worte gesprochen zu haben. Er erinnerte sich nur an Emmeline, daran, wie verkehrt sie sich angefühlt hatte, wie reglos, wie leer.
Aber er wusste, was er gesagt hatte – er hatte die Aufzeichnung unzählige Male gesehen. Eine Weile hatte eine ortsansässige Reporterin, Ki Bowles, das Thema jedes Mal zur Sprache gebracht, wenn er in einer der Storys, an denen sie arbeitete, eine Rolle gespielt hatte.
Dafür hasste er sie. Er hasste sie für viele Dinge, aber das hielt ihn nicht davon ab, sie zu benutzen. Derzeit arbeitete sie für ihn an einigen Storys, vernichtete die Reste von Palomas Vermächtnis, während er noch die geheimen Dateien ergründete, die Paloma ihm hinterlassen hatte.
Und die Dateien, die sie hatte löschen wollen.
Er schloss den Dateiordner. Dann starrte er die beiden nicht gekennzeichneten Audiodateien an. Eine Weile hatte Paloma ihre Notizen im Audioformat abgelegt, bis sie herausgefunden hatte, dass der schmierige Anwalt nebenan alles hören konnte, was sie sagte. Daraufhin hatte sie ihr Büro mit einem Schallschutz ausgestattet und dafür gesorgt, dass besagter schmieriger Anwalt niemals von seinem Wissen Gebrauch machen würde.
Flint überging die Dateien. Er würde sie sich in Kürze anhören.
Zunächst musste er sich den Datensatz ansehen, der mit Emmeline gekennzeichnet war.
Eine Reihe holographischer Lichtbilder erschien vor seinen Augen. Aus Emmeline an ihrem ersten (ihrem einzigen) Geburtstag, wie sie lachend die kleinen Stummelfingerchen in den Kuchen bohrte, entwickelte sich ein Kleinkind und ein Kind mit einem lückenhaften Grinsen, Folge des Verlusts ihrer Milchzähne, dann ein Mädchen mit dem schmalen Körperbau ihrer Mutter und Flints blonden Locken und blauen Augen.
Die Bilder verschwanden so schnell wie sie sich aufgebaut hatten.
Er fühlte sich ein wenig benommen, und ihm wurde klar, dass er den Atem angehalten hatte. Er zwang sich, Luft zu holen, und stand auf.
Wieder ging er in dem beengten Cockpit auf und ab, unfähig, die Bilder abzuschütteln.
Emmeline, wie sie heranwuchs.
Was natürlich unmöglich war. Er selbst hatte sie in den Armen gehalten. Hatte ihren Leichnam gehalten, tot und zerstört. Er hatte neben Rhonda gestanden, als der
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