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Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stollfuß
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Wasser und kranke Kinder. Die Wälder sahen nun auch auf der Leinwand nicht gut aus – als ob ein Tungusischer Meteorit sie gerade erwischt hätte.
    »Der einzige Mensch, der bisher in den Kampf gegen die Vorboten der Weisen von Zion zog, befindet sich heute hier auf unserer Bühne«, sagte der Rotgesichtige und zeigte auf die Hexe: »Diese mutige Frau hat in den russischen Wäldern eine Beere entdeckt, die eine große Heilkraft besitzt und den jüdischen Krebs unschädlich machen kann.«
    Die Frau auf der Bühne zeigte dem Publikum das Gebäck in ihrem Korb. Das Publikum applaudierte der Hexe herzlich.
    »Aber sie allein hat gegen das Böse keine Chance. Wir müssen dringend eine neue orthodoxe Kirche am Baikal-See errichten. Der heilige Sonnenstrahl wird die bösen Kräfte verwehen. Also spendet Geld für eine neue Kirche am Baikal-See.«
    Die Leute im Saal standen auf und bildeten eine Schlange vor dem Priester, der ihr Geld einsammelte. Der Rotgesichtige kündigte derweil an, dass jeder, der Interesse hätte, das heilende Gebäck vom Baikal-See probieren könnte. Nach zwei Minuten war der Hexenkorb leer. Ich konnte mir den Spaß nicht verkneifen und nahm ebenfalls ein Paar Kekse.
    »Gut, dass sie meinen Nachnamen nicht wissen«, dachte ich und winkte den Verrückten freundlich mit der Hand. Die Show ging weiter.
    Auf einmal schrie eine junge männliche Stimme vom Balkon: »Faschisten, ihr werdet bald Kinder aufhängen!«
    »Kommen Sie runter, junger Mann!«, rief der Rotgesichtige zurück. »Wir unterhalten uns hier wie zivilisierte Menschen, warum verstecken Sie sich da oben? Ich muss betonen, dass ich kein Antisemit bin.«
    Oben knallte eine Tür, und jemand fiel zu Boden.
    Am nächsten Tag hatte ich Durchfall: Mehrere Stunden saß ich auf dem Klo und verfluchte alle: die Hexe, die Volksinitiative, den Baikal-See, die blöden Kekse und vor allem meine eigene Neugier. Ständig klingelte das Telefon. Der Leiter des Kulturhauses wollte sofort die Tonbänder haben. Ich wollte sie jedoch zuerst überspielen – für meine Freunde, Verwandten und Bekannten und für die Geschichte.
    »Ich habe die Bänder aus Versehen mit nach Hause genommen«, log ich den Direktor am Telefon an, »morgen liegen sie auf Ihrem Tisch.«
    »Worum ging es eigentlich gestern?«, fragte er mich besorgt.
    »Ach, eigentlich um nichts Besonderes. Die Juden haben den Baikal-See vergiftet«, fasste ich das Ergebnis des Abends kurz zusammen.
    »Aha, gut zu wissen, dort wollte ich demnächst eigentlich Urlaub machen«, sagte der Chef und legte auf.
    Am darauf folgenden Wochenende gab es ein neues Programm von der Volksinitiative »Gedächtnis«. Diesmal war die Veranstaltung den Architekturdenkmälern der Hauptstadt gewidmet. Wieder war der Saal voll, und der Rotgesichtige begann mit einem Diavortrag.
    »Vor kurzem feierte unser Land den Sieg über Napoleon im Ersten Großen Vaterländischen Krieg«, erzählte er. »Auf diesem Bild sehen Sie den Triumphbogen, der auf dem Fluchtweg Napoleons aus dem verbrannten Moskau aufgebaut werden sollte. Doch dieses Projekt wurde von den Stadtplanern abgelehnt, stattdessen wurde das Tor auf einen Prospekt gestellt, den Napoleon nutzte, um Moskau zu erobern. Das ist eine Provokation gegenüber uns allen und eine Sabotage der nationalen Werte.«
    »Eine Sauerei!«, hörte man die Stimme des Volkes aus dem Saal.
    Eine ältere Dame mit Handtasche betrat die Bühne: »Ich weiß«, rief sie mit aufgeregter Stimme ins Mikrofon, »dass man morgen meine Leiche vielleicht unter einer Brücke finden wird, von einem Lastwagen überfahren. Vielleicht findet man meine Leiche auch gar nicht mehr, das ist mir aber egal! Ich möchte hier trotzdem die Namen der Angestellten der Stadtplanung laut vorlesen, die für diesen Unfug verantwortlich sind.«
    Sie holte aus der Tasche einen Zettel und las die Namen vor, die alle ziemlich unrussisch klangen. Der Diavortrag lief inzwischen weiter.
    »In einem Wettbewerb um das beste Denkmal für General Suworov nahm der geschätzte russische Bildhauer Dubow teil. Hier sehen Sie sein Projekt«, erklärte der Dicke.
    Auf der Leinwand war ein großer, kräftiger Mann zu sehen. In einer Hand hielt er ein riesiges Highlander-Schwert, mit der anderen schlug er sich gegen die Brust.
    »Dieser Denkmalentwurf wurde von den Stadtplanern abgelehnt, zu Gunsten eines anderen vom Bildhauer Rosenkranz.«
    Auf der Leinwand erschien nun ein anderes Denkmal. Der Suworov von Rosenkranz sah nicht gut aus. Er

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