Militärmusik - Roman
von der Muschel einen klitzekleinen Raum ab, der als Lagerraum für die Tonanlage diente. Ich hatte die Schlüssel dafür. Immer wenn es regnete, kamen zwei Mädchen aus dem Park zu mir und besuchten mich in dem Abstellraum. Dort versuchte ich, sie mit gerade aufgeschnappten Informationen über das Leben auf dem Mars zu verführen. Die Mädchen hörten mir mit großem Interesse zu und hielten mich für sehr gebildet. Der Beruf eines Lektors geriet mir darüber von Mal zu Mal verlockender. Man kommt viel herum, erzählt Geschichten, genießt die allgemeine Aufmerksamkeit und bekommt noch Geld obendrauf. Vielleicht sollte ich mich auch bei der Gesellschaft »Das Wissen« bewerben, überlegte ich. Doch bald war der Sommer vorbei und damit auch die Veranstaltungsreihe zu Ende.
Im Park tauchten neue Gesichter auf. Merkwürdige Gestalten, die alle schwarze Pullover mit Kapuzen trugen. Auf dem Rücken ihrer Pullover stand das Wort »Gedächtnis«. Sie versammelten sich vor dem Kulturhaus und hatten immer irgendetwas miteinander zu besprechen. Ob morgens oder abends: Sie waren stets nüchtern, und nie ging einer von ihnen alleine einfach so durch den Park spazieren. Irgendwann bestellte mich die Kulturhausdirektion zu einem Gespräch.
»Du hast es gut gemacht im Park«, sagte der Leiter des Kulturhauses zu mir. »Abgesehen von dem Lektor sind alle anderen Artisten heil aus dem Park gekommen. Wir machen ab Herbst hier in unserem Kulturhaus weiter. Eine Volksinitiative hat sich bei uns gemeldet. Sie wollen bei uns eine Veranstaltungsreihe zum Thema ‘Rettung der Natur’ oder so ähnlich organisieren. Das sind Ökologisten, die für die Reinheit der Natur und den Wiederaufbau der orthodoxen Kirche stehen, weißt du? Einige von dieser Gruppe, ‘Gedächtnis’, hast du bestimmt schon drüben im Park gesehen. Wir haben im Grunde nichts dagegen, nach Absprache mit dem Bezirksparteikomitee. Sie meinen, eine gesunde Volksinitiative könnte in unseren schwierigen Zeiten nicht schaden. Nur, wir müssen natürlich die Kontrolle behalten, damit alles anständig abläuft. Diese ‘Gedächtnis’-Leute haben einen großen Zuspruch beim Volk. Deswegen wäre dein Job folgender: Bei allen diesen Veranstaltungen dabei zu sein, ein Mikro auf der Bühne aufzustellen und alles aufzunehmen! Jedes Wort, das im Saal fällt, möchte ich gleich am nächsten Tag auf dem Tisch haben«, schärfte der Direktor mir ein und schob einen Stapel Tonbänder hin.
Die erste Veranstaltung schien harmlos zu sein. »Die unwiderstehliche Schönheit des Baikal-Sees«, hieß sie laut Programm. Eine Stunde vor Beginn war das Kulturhaus voll von Menschen in Kapuzen und anderen Neugierigen. Eine lange schwarze Limousine hielt vor dem Haus, und ein Priester der orthodoxen Kirche mit einem langen weißen Bart und einem riesengroßen Kreuz auf der Brust stieg aus. Das Volk jubelte. Der Priester war in Begleitung einer alten Dame, die wie eine Hexe aus dem Märchen aussah und noch dazu einen Korb mit Gebäck in der Hand trug. Das merkwürdige Paar betrat die Bühne des Kulturhauses zusammen mit einem glatzköpfigen dicken Mann mit rotem Gesicht, der allem Anschein nach der Anführer der Volksinitiative war. Aufgeregt saß ich in meiner Licht-und-Ton-Loge und drückte auf den Aufnahmeknopf.
Der Abend begann mit einem Diavortrag über den Baikal-See. Wir sahen eine Idylle: klares Wasser, große Wälder, freundliche Dorfbewohner, lachende Kinder beim Baden, glückliche Fischer mit großem Fang auf dem Weg nach Hause – dazu die Abflussrohre der Zellulosefabrik, aus denen irgendeine Scheiße in den Baikal-See gespült wurde. Danach ergriff der Rotgesichtige das Wort:
»Vor fünf Jahren wurden der Fabrikdirektor Genosse Ivanov und zwei leitende Ingenieure, Petrow und Michailow, durch die Ingenieure Goldberg und Kramstein ersetzt«, begann er. »Diese Leute erwiesen sich als Vorboten der Weisen Zions, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, unser Land ins Verderben zu stürzen. Sie sind für den Einsatz des giftigen Pulvers verantwortlich, das unseren Baikal-See kaputtmacht und das Volk krank. Die Seuche wird in der Gegend ‘jüdischer Krebs’ genannt.«
Das Publikum zeigte durch Pfiffe und Trampeln sein Entsetzen. Ich war von der Show völlig begeistert, so etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich nahm alles auf. Der Diavortrag wurde fortgesetzt. Diesmal konnte man auf den Bildern klar erkennen, dass der Schaden durch den Judenkrebs enorm war: tote Fische, verschmutztes
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