Militärmusik - Roman
Weltkrieges, außerdem noch die Tereschkova, die erste Frau im Weltraum, und noch ein paar andere, die bekannt waren.
Dennis, mein Schulkamerad, schrieb immer über seine Mutter, Tante Nina, und dass er so werden wolle wie sie. Dabei war seine Mutter eine ziemlich seltsame Dame und alles andere als ein Vorbild für Jungs. Einmal sah ich sie in unserem Hof, es war ein kalter Winterabend. Sie stand barfuß im Schnee und haute mit einem Schuh irgendeinem Kerl auf den Kopf. Hinterher meinte sie, der Kerl wollte sie angreifen und sie habe sich nur gewehrt. Besonders glaubwürdig klang das nicht. Tante Nina war oft betrunken und kam nicht jede Nacht nach Hause. Damals wunderte ich mich, dass Dennis ausgerechnet seine Mutter als Vorbild wählte, obwohl er oft sagte, wie toll er sie fände, als Frau und überhaupt. Ich war verwirrt. War sie wirklich besser als Zoe Kosmodemjanskaja? Ist mir egal, sagte Dennis, sie ist die Beste.
Eine Vermutung bildete sich in unseren Köpfen: ob sie uns mit diesen Heldengeschichten für dumm verkaufen wollten? Vielleicht waren die Großen gar nicht das, was uns die Lehrer weismachen wollten. Wir stellten Nachforschungen an und erfuhren bald, dass Matrosov ein Gefangener gewesen war, der sich lieber von feindlichen Geschützen hatte töten lassen als wegen Befehlsverweigerung erschossen zu werden. Bei Zoe Kosmodemjanskaja war überhaupt unklar, auf welcher Seite sie gekämpft und wer sie eigentlich umgebracht hatte: die Deutschen oder die Russen. Den Bezwinger des deutschen Reichstags kannte mein Vater sehr gut. Dieser Held verbrachte den Rest seines Lebens in einer Bierkneipe auf der Allee der Kosmonauten in Odessa. Von frühmorgens bis abends spät erzählte der Mann, wie er auf den Reichstag hochgeklettert war und die Fahne gehisst hatte – dafür bekam er sein Ehrenbier. Er starb dann auch in dieser Kneipe.
Ich war noch nicht mal 12 Jahre alt, aber mein Pantheon war schon so gut wie leer. Und plötzlich, nach so vielen Jahren, kamen sie: die Generäle der Jugendkultur, die uns aus der Seele sprachen. Mischa, Boria, Pascha – die russischen Ausgaben von David Bowie, Mark Bolan und Jonny Rotten. Der Vater von Pascha Rotten war ein sehr berühmter Ballettmeister, der bei einem Gastspiel des Kirovsky-Theaters abgehauen und im Westen geblieben war. Pascha hatte immer Geld und konnte tun und lassen, was er wollte. Nie wurde er vom KGB geschnappt, was für viele andere Helden aus der Szene fast alltäglich war. Man erzählte, der Grund dafür sei sein berühmter Vater. Der KGB wollte dem Westen keinen Skandal liefern. Deswegen oder weil Pascha einfach ein Glückspilz war, waren seine Aktionen immer sehr mutig und ausgefallen. Seine Gruppe »Die automatischen Befriediger« bildete kein festes Ensemble, es waren immer irgendwelche Musiker, die gerade in der Nähe waren. Nur Pascha, der erste Punk der Sowjetunion, blieb unersetzbar.
Einmal sollte ich ihm aus der Irrenanstalt heraushelfen. Ich kannte einen Arzt, und es hätte auch funktioniert. Aber als wir schon fast draußen waren, kam uns die Oberärztin, eine ehrenwerte sechzigjährige Frau, entgegen. Pascha zeigte plötzlich auf sie und brüllte: »Die habe ich auch gefickt!« Er war ein richtiges Schwein. In der Klapse schrieb er Gedichte von der Art:
Nur die Krankenschwester Helena
hat Schlüssel für meine Handschellen.
Wir kreuzen beide im Gleichschritt
Am Boulevard den Hundeschit;
Bloß ein Schritt nach nebenan,
Und sie ruft die Bullen an.
Bei seiner Punkhochzeit in St. Petersburg warf er seine tolle Braut in einen Mülleimer. Zuerst war sie beleidigt. In Moskau fuhr er mit dem Motorrad in das Schaufenster eines Juwelierladens. Fast bei jedem seiner Auftritte fiel er betrunken von der Bühne. Nach der Perestroika geriet Pascha in Vergessenheit. Er starb letztes Jahr mit 38.
Mark Bolan sollte ich einmal vom Bahnhof abholen. Er kam extra aus St. Petersburg, um bei uns in einer extra dafür angemieteten Wohnung zu spielen. Eines unserer ersten Undergroundkonzerte. Er war ein kleiner grauhaariger Mann. In der Hand hielt er einen Diplomatenkoffer. Eine Stunde vor Beginn saßen wir bei uns in der Küche, während sich die Wohnung langsam mit Leuten füllte. Mischa öffnete den Koffer. Es befanden sich zwei Flaschen Wodka darin.
»Die müssen wir jetzt leeren«, sagte Mischa nachdenklich. »Sonst kann ich mich nicht auf den Gesang konzentrieren.«
»Gut«, sagte ich, »wenn es sein muss.«
Als die Zeit reif war, aufzutreten,
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