Millionär
exakt so aus wie das Foyer mit dem einzigen Unterschied, dass er doppelt so groß ist. Noch mehr als die Größe des Raumes überrascht mich das Publikum, das bereits drin sitzt. Es ist eine unbeschreibliche Mischung aus Leuten, die es schon geschafft haben, und Leuten, die es nie schaffen. Shahin und ich haben uns einen Platz im hinteren Drittel des Raumes ausgesucht. Sicher ist sicher. Direkt neben mir sitzt ein lustiger Kauz mit langen Haaren und Halbglatze, der andauernd irgendwelche Dinge aus seiner Jacke holt. Ich nutze die Wartezeit und lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Ganz vorne hat man eine breite Bühne aufgebaut mit zwei türgroßen Papierbannern, von denen das eine einen zuversichtlich lächelnden Heini im Anzug zeigt und das andere das Seminarmotto »Der Sekundenmillionär«.
Ich schubse Shahin mit dem Ellenbogen.
»Ist das dieser Ron Schubert auf dem Banner?«
»Glaub schon.«
»Super. Dann können wir eigentlich gleich wieder gehen!«
»Wieso?«
»Weil ich von dem Schmierlappen nicht mal 'ne Handy-Oberschale kaufen würde aufm Weihnachtsmarkt.«
»Ich hab bezahlt, Simon. Ich bleibe.«
Ich will gerade mein gelbes Notizbuch zurück in die Tasche stecken, als uns in Diskothekenlautstärke die ersten Takte des 80er-Jahre-Dancehits »The Power« von SNAP ins Gesicht schlagen. Der gesamte Saal springt auf und klatscht mit, wobei der Kauz neben mir gleich völlig durchdreht und so ausladend zu tanzen beginnt, dass drei von seinen Dingen auf den Boden fallen. Shahin, der ebenfalls steht und klatscht, zieht an meiner Jacke.
»Simon! Mach mit!«
»Ich will Millionär werden, kein Zirkusaffe!«
Ich verschränke meine Arme und rutsche noch ein wenig tiefer in meinen Sitz.
Shahin greift mir unter die Schulter und zieht mich nach oben. Augenrollend lasse ich mir hoch helfen und traue meinen Augen nicht, als ich vorne auf der Bühne die Damen und Herren erkenne, die mir eben noch bei der Akkreditierung das gelbe Bändchen an die Hand gesteckt haben. Dem Publikum zugewandt klatschen sie zum Rhythmus der Musik und animieren uns, das Gleiche zu tun. Besonders ein grauhaariger Senior gibt dabei alles und legt sogar eine Breakdance-Rolle aufs Parkett. Unfassbar. Ist das vielleicht ein Sektentreffen hier? Und müssen wir uns zum Schluss alle selbst anzünden, um das wahre Glück zu finden? Aber vor allem - was freuen sich denn schon alle so, das Seminar hat doch noch gar nicht angefangen! Shahin stellt sich solche Fragen offenbar nicht, denn während ich nur stumm die Bass-Einschläge in meiner Jacke zähle, macht der es wie alle anderen und tanzt mit.
»I got the power!«, singt er mich schließlich sogar an, woraufhin ich ihm den Vogel zeige. Statt sich zu ärgern deutet er auf mich und singt in persischem Englisch mit:
»And I will attack and you don't want that!«
Ich senke meinen Blick und halte die Hand vors Gesicht. Das darf doch wohl alles nicht wahr sein! Wie weit hat mich diese Hummertussi gebracht, dass ich mir freiwillig so was antue? Ich sollte echt abhauen. Und dann? Was dann? Was ist, wenn dieser Motivationstrainer auch nur einen einzigen geldbringenden Tipp in seiner goldenen Weste hat? Was ist, wenn dann Shahin Millionär wird und ich nicht? Wenn ich das Haus doch nicht kaufen könnte und bis an mein Lebensende fünfsekündige Dancetitel über mir ertragen müsste, mitternächtliche Laufband-Sessions und schlechte Tennisspiele? Ich würde es verdammt nochmal keine Scheiß Sekunde lang ertragen! Ein letztes Mal hallt dem offenbar leicht zu beeinflussenden Seminarvolk ein »I got the power« um die Ohren, dann setzen sich alle und ein esoterischer Klangteppich legt sich über den Saal. Trockeneisnebel wird auf die Bühne gepumpt und das Licht verdunkelt.
»Es war einmal ein Bauer .«
Eine ruhige und tiefe Männerstimme legt sich über die Sphärenklänge und dann entdecke ich mitten im Trockeneis einen Mann mit beigefarbenem Hemd, gelben Business-Hosenträgern und Funk-Headset. Er könnte Märkte am Morgen auf n-tv moderieren.
»Es war einmal ein Bauer, der fand ein Adler-Ei auf seinem Feld.«
Irgendetwas Seltsames ist an dieser Stimme. Ich drehe mich zu Shahin, doch der lauscht ganz beseelt den ersten Worten des großen Meisters.
»Und da der Bauer nicht wusste, was er mit dem Adler-Ei tun sollte, legte er es zu seinen Hennen ins Nest. Tage später schlüpfte der kleine Adler aus seinem Ei und blickte umher: Es waren nur Hühner um ihn herum.«
Jetzt hab ich's! Mr.
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