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Milner Donna

Milner Donna

Titel: Milner Donna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: River
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immer wieder vor Schmerz aufwachte, der in Wellen kam und ging.
    Irgendwann wachte ich auf, als sich Mom über mich beugte und die Hand auf meine Stirn legte. Boyer stand in der Tür hinter ihr.
    »Es muss der Blinddarm sein«, sagte Mom. »Tut es dir hier an der Seite weh?«
    Ehe ich antworten konnte, hob sie mein Hemd hoch, um meine rechte Seite abzutasten.
    »Du lieber Gott!«, rief sie, als ihre Hände mich berührten.
    Ich schob sie weg. Sie wandte sich an Boyer. »Kannst du uns zum Krankenhaus fahren?«, fragte sie.
    Wenn man auf einem Bauernhof aufwächst, weiß man, woher die Dinge kommen. So dicht an der unverfälschten Natur zu leben bedeutet, dass nichts geheim bleibt. Man weiß, dass das Wasser, das man trinkt, aus einer Bergquelle kommt, weil man seinem Vater geholfen hat, die Leitungen zu reparieren. Man weiß, dass der Speck und der Schinken von der Sau stammen, die einst das Ferkelchen war, dem man dummerweise einen Namen gegeben hatte. Man weiß, dass die Eier und die Keulen von diesen gelben Flauschbällchen kommen, die man zu knopfäugigen Hennen hat heranwachsen sehen. Wenn Platten mit aufgeschnittenem Roastbeef auf den Tisch gestellt werden, verschwendet man keinen Gedanken an den Schleimschwall, der aus der Nase des Stiers herausschoss, als seine Knie im Augenblick des Todes auf den Boden knickten. Dennoch weiß man es. Man kennt Geburt und Tod, die Wahrheiten des Lebens.
    Und trotzdem kann ich es mir immer noch nicht erklären, wie unvorbereitet ich auf Dr. Mumfords Worte in der aseptischen Stille der Notaufnahme war. »Wir bringen sie hinauf in den Kreißsaal«, sagte er, als er seine tastenden Hände von meinem Bauch nahm.
    Kreißsaal? Wovon redete er überhaupt? Ich versuchte, mich auf dem Untersuchungstisch aufzusetzen, doch da packte mich der Schmerz aufs Neue. Ich spürte den festen Druck der Hände einer Nonne, die mich zwangen, mich wieder zurückzulegen.
    Während die Schwester mich mit finsterer Miene aus dem Raum schob, hörte ich, wie Moms Stimme die Fragen wiederholte, die sich in meinem Kopf gebildet hatten. »Kreißsaal? Wie bitte?«
    »Sie steht kurz vor der Entbindung, Nettie«, erklärte Dr. Mumford. »Das hast du doch bestimmt gewusst.«
    Mein Leben lang sollte ich mich fragen, wie es möglich war, dass ich es nicht wusste. Wie konnte ich fast acht Monate Leben im Leib tragen und nichts von seiner Existenz merken? Doch bis zu jenem Augenblick hatte ich keine Ahnung. Aber als ich hörte, wie Dr. Mumford diese Worte zu meiner Mutter sagte, wusste ich, dass sie wahr waren.
    Ich packte den eiskalten Rahmen der fahrbaren Krankentrage aus verchromtem Stahl, als mich ein erneuter Schmerz durchzuckte. Plötzlich war ich wieder in der Kiesgrube, gegen die schwarze metallene Motorhaube gepresst. Glühende Hitze fiel wie damals über meinen Körper her und drohte mich zu zerreißen.
    Seit jener Juninacht war es mir gelungen, gleichgültig und stumpf zu bleiben. Es war, als wäre ich durch die Schrecken jener Nacht und die nachfolgenden Tragödien abgeschaltet worden. Mit jeder Schmerzattacke war es nun, als würde mein Körper gegen seinen Willen aufwachen.
    Ich bemühte mich, teilnahmslos zu bleiben. Ich wollte nicht zurückkehren. Ich wollte in jenem Vakuum bleiben, in das ich mich verkrochen hatte.
    Als sich die Aufzugtüren schlossen, hörte ich die resolute Stimme der Nonne. Sie war die Erste, die es aussprach: »Du musst es gewusst haben«, sagte sie.
    In dem kalten weißen Licht des Kreißsaals drehte ich meinen Kopf von der behandschuhten Hand weg, die eine schwarze Gummimaske auf mein Gesicht hielt. Ich wehrte mich dagegen, die erstickenden Dämpfe einzuatmen, aber nach ein paar japsenden Atemzügen überließ ich mich der Dunkelheit, und die Lichtringe zogen mich in ihren Strudel hinein und blendeten den Schmerz aus.

40
     
    V OR DEM S T . H ELENA’S H OSPITAL beugt sich Jenny über die Gegensprechanlage. »Hier ist Jennifer Mumford«, sagt sie. Die Sprechanlage ist, wie die Rampe, die zu den modernen Glastüren hinaufführt, eine Neuerung. Der Eingang aus Marmor und die breiten Stufen, deren Kanten durch ein ganzes Jahrhundert von Schritten blank getreten sind, sind noch dieselben.
    Ein Summer signalisiert, dass die Tür geöffnet wird. Drinnen führt Jenny mich zur Treppe. »Über die Stiegen geht es schneller als mit diesem alten Lift«, sagt sie.
    Ich besuche meine Mutter hier zum ersten Mal. Als ich selbst in diesem Krankenhaus lag, ließ ich den leblosen Körper eines

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