Milner Donna
Babys zurück, das zu früh zur Welt gekommen war. Seither bin ich vor dieser Erinnerung davongelaufen. Heute Abend ist mein Bedürfnis, meine Mutter zu sehen, stärker als die Angst. Ich folge meiner Tochter die Stufen hinauf.
Wenn ich Mom besuche, frage ich mich immer, ob es das letzte Mal sein wird. Und immer fahre ich wieder ab in dem Bewusstsein, dass es Dinge gibt, die ungesagt bleiben werden.
Geheimnisse zu wahren ist ein einsames Geschäft. Je länger man sie wahrt, desto schwerer wird es, sie zu lüften. Ich weiß, dass meine Weigerung, irgendjemandem zu erzählen, was mir Mr. Ryan in jener Nacht in der Kiesgrube angetan hat, ein sinnloses Opfer war. Er hat sich seinerseits nicht an das Versprechen gehalten, und ich habe niemanden dadurch geschützt, dass ich den Mund hielt. Doch nach Rivers Tod und Boyers Unfall – wie hätte ich da den Kummer meiner Familie noch um das Grauen meiner Vergewaltigung mehren können? Ich ließ meine Mutter, meine Familie in dem Glauben, dass das tot geborene Kind die Folge meiner Nacht mit River war.
Zwischen Mom und mir hatte es eine Art stillschweigende Übereinkunft gegeben, Diskussionen über diesen Abschnitt unseres Lebens zu vermeiden. Was hätte Gutes dabei herauskommen können, wenn man die Vergangenheit aufwühlte? Es war passiert. Miteinander geteilte Erinnerungen würden nichts ändern. Doch manchmal möchte ich mit ihr über das »Was wäre, wenn« diskutieren. Was, wenn ich in jener Nacht nicht auf Rivers Zimmer gegangen wäre? Was, wenn sie mich nicht gesehen hätte? Was, wenn ich nicht zu Boyers Hütte gerannt wäre, ihn nicht zusammen mit River gesehen hätte? Und, vor allem, was, wenn ich, statt in jener Nacht in den Wald zu laufen, einfach nach Hause gegangen wäre? Wie anders wäre dann unser aller Leben verlaufen?
Aber ich kann ihr nicht von den vielen Momenten erzählen, in denen ich andere Entscheidungen hätte treffen können, die unser Leben intakt gelassen hätten. Was wäre damit erreicht? Zumal ich mir fast sicher bin, dass meine Mutter ohnehin alles weiß.
Was jedoch niemand außer mir weiß, das ist die tatsächliche Ursache des Feuers, das in Boyers Hütte ausbrach. Und ich frage mich, ob meine Schuld irgendwie geringer würde, wenn ich es ihr erzählte?
Schuld ist ein strenger Meister. Sie verlangt von einem, stets auf der Hut zu sein, immer aufzupassen, was man sagt. So widerstand ich der Versuchung, mein Herz auszuschütten, der Versuchung, die mich beschlich, wenn ich meinem Bruder ins Gesicht blickte.
Aber ich ging ihm aus dem Weg. Das letzte Mal, dass ich draußen auf der Farm übernachtete und gezwungen war, mit den Dämonen zu kämpfen, war beim Begräbnis meines Vaters.
Als meine Brüder nach den Feierlichkeiten in jener Nacht zu Bett gingen, räumte meine Mutter die Teetassen ab und stellte eine Flasche Wein und zwei Kristallgläser auf den Tisch. Ich saß ihr im Esszimmer gegenüber, während sie über meinen Vater sprach. Ich fragte sie, wie sie sich in jemanden verlieben konnte, der so anders war als sie.
»Es war leicht, sich in deinen Vater zu verlieben.« Sie lächelte. »Ich war blutjung und vielleicht ein bisschen zu romantisch. Wenn ich deinem Vater in die Augen schaute, sah ich das, was ich sehen wollte: Ich habe deinen Vater geheiratet, weil ich wusste, dass er ein guter Vater sein würde. Ich denke, wir alle wollen das, was wir als Kinder nicht hatten. Ich hatte keine Familie. Ich wusste, dass die Farm und dein Vater mir eine Familie geben konnten.«
Sie fing an, über ihre Enttäuschung in ihrem intimen Eheleben zu reden. Es war, als hätte sie darauf gewartet, jemandem von der Öde auf diesem Gebiet ihres Lebens zu erzählen. »Manchmal blieb ich mit einem solchen Gefühl der Leere zurück«, sagte sie. »So einsam.«
Während ich ihren Erinnerungen zuhörte, fühlte ich mich so unwohl, als würde ich an der Tür lauschen. Ich widerstand der Versuchung, die Fragen zu stellen, die mich seit Rivers Tod beschäftigten. Warum war sie in jener Nacht draußen vor seiner Tür? Ist sie hinaufgegangen, nachdem ich fort war? Hat River auch sie getröstet? Aber ihre Antworten hätten nichts geändert.
Stattdessen fragte ich sie, warum sie bei meinem Vater geblieben war. Sie schien aus ihren Träumereien zurückzukehren und sagte: »Damals haben wir wirklich für immer geheiratet, weißt du. Wir haben es nicht ausprobiert und dann, wenn es nicht passte, weggeworfen. Unser Glaube und die Zeiten haben das nicht erlaubt.
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