Milner Donna
überprüfen.
»Irgendjemand sucht einen Vorwand, damit wir hier dichtmachen«, beklagte sich Dad, wenn die Beamten erschienen. Die Prüfergebnisse waren stets einwandfrei.
Während der Weihnachtsferien war es schwieriger, um Boyer einen Bogen zu machen. Wenn ich nicht gerade mit Routinearbeiten beschäftigt war, zog ich mich auf mein Zimmer zurück. Eines Nachmittags rief mir meine Mutter, als ich nach oben stapfte, hinterher: »Geh in Boyers altes Zimmer und hol ein paar von seinen Büchern herunter.«
Die Kammer auf dem Dachboden stand leer, seit Boyer im Jahr zuvor in die Hütte gezogen war. Morgan und Carl verspürten keine Neigung, dort hinaufzuziehen, denn beide waren froh, sich nach wie vor ein Zimmer zu teilen.
Die meisten von Boyers Büchern waren durch das Feuer in der Hütte vernichtet worden, aber in seinem alten Zimmer gab es noch einige Stapel.
Es war nicht nur die kühle, feuchte Luft dort oben, vor der ich zurückschreckte, als ich widerwillig zum Speicher hinaufkletterte. Was in dem Zimmer fehlte, war mehr als ein Bett und ein Schreibtisch. Es war wie ein Gespensterzimmer. Ich zögerte einen Augenblick, bevor ich mit einem Schauder eintrat und eilends die Bücherstöße durchsah. Ich trug einen Armvoll Bücher in die Küche und legte sie auf den Tisch, damit meine Mutter sie inspizieren konnte. Sie nahm eines in die Hand, dann ein anderes – so, als wählte sie in einem Geschäft Tomaten aus. Es waren bekannte Romane, Klassiker, die sie und Boyer bestimmt schon mehrmals gelesen hatten.
Schließlich entschied sie sich für Dickens’ Geschichte aus zwei Städten und schob es mir hin. »Ich möchte, dass du Boyer das hier vorliest«, sagte sie.
Ich tat einen Schritt zurück, als graute mir vor dem Buch. »Aber … aber, das kann ich nicht«, stammelte ich. Sie hatte keine Ahnung, was sie da von mir verlangte.
»Und ob! Natürlich kannst du das. Ihm bereitet es Schwierigkeiten, über längere Zeit ein Buch zu halten.« Sie deutete mit dem Kinn in Richtung Salon. »Geh hinein und setz dich neben ihn und lies einfach.« Sie schob mir das Buch in die Hände. »Es wird euch beiden guttun.«
Im Salon lag Boyer mit geschlossenen Augen in Dads Fernsehsessel. Auf dem Bildschirm hackte der Galloping Gourmet gerade Zwiebeln. Ich ging zum Gerät und schaltete es aus. Graham Kerrs tränenüberströmtes Gesicht schnurrte auf der Bildfläche zu einem winzigen weißen Punkt zusammen. Als ich mich umdrehte, saß Boyer aufrecht da.
Ich fühlte, wie seine Augen mir folgten.
»Mom hat gesagt, dass ich dir vorlesen soll.«
Boyer gab keine Antwort. Vielleicht nickte er. Ich weiß es nicht. Ich blickte auf das Buch in meiner Hand, auf den ovalen Flickenteppich vor meinen Füßen, überallhin, nur nicht in sein Gesicht.
Ich setzte mich in Moms Lehnstuhl rechts von ihm und schlug die erste Seite auf. Ich fand meine Stimme und begann zu lesen: »Es war die beste aller Zeiten, es war die schlimmste aller Zeiten …«
Ich las die Wörter ab, aber ich hörte und fühlte keines von ihnen. Ich hielt meinen Blick auf die Seiten gerichtet, während meine monotone Stimme weiter leierte. Wir müssen ein seltsames Paar abgegeben haben, wie wir beide so steif in den Stühlen unserer Eltern saßen und die Präsenz des anderen ignorierten. Boyer, der mir das Lesen beigebracht hatte, der mich gelehrt hatte, auf den Rhythmus, die Musik der Wörter zu achten, blickte stur geradeaus.
Als ich klein war, hätte er mir genau zugehört, während ich vorlas, mich dann mitten im Satz unterbrochen, wenn er aus meiner Stimme »die Leidenschaft«, wie er sagte, oder »die Wahrheit« nicht heraushören konnte. Jener Boyer hätte mein ausdrucksloses Vorlesen niemals ertragen. Er hätte mich nach ein paar Zeilen gestoppt und darauf bestanden, ihn die Schönheit der einzelnen Wörter hören zu lassen, oder er hätte sie aus dem Gedächtnis wiederholt und ihnen das Leben eingehaucht, das sie verdienten. Dieser Boyer hier aber sagte nichts.
Als ich den letzten Satz des ersten Kapitels beendet hatte, stand er auf. Die Stimme eines Fremden sagte mit einem rauen Gurgeln in der Kehle: »Vielen Dank.« Dann zog er sich in den Wintergarten zurück.
Ich drückte den Ärmel meines Sweatshirts gegen die Nase, um Nieser und Tränen zurückzudrängen. Diese beiden Worte waren die ersten, die mein Bruder seit der Nacht des Unfalls an mich gerichtet hatte.
Der Unfall. So nannte meine Familie die Brandnacht, wenn – höchst selten – die
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