Milner Donna
Sprache darauf kam. Ich erwähnte sie überhaupt nicht. Aber ich sehnte mich danach, mit der Wahrheit herauszuplatzen.
Am nächsten Nachmittag setzte ich mich neben ihn und wollte wieder lesen. Doch bevor ich anfing, beschloss ich, es ihm zu sagen. Ich legte das Buch ungeöffnet in den Schoß und holte tief Luft, während ich nach den richtigen Worten suchte. »Das Feuer, Boyer, ich …«
Er zuckte zusammen, als er sich im Fernsehstuhl zurücklehnte. »Nicht jetzt, Natalie, ich bin müde«, entließ mich die krächzende Stimme eines Fremden.
Ich flüchtete mich auf mein Zimmer.
Als ich später herunterkam, um bei den Vorbereitungen für das Abendessen zu helfen, hörte ich Dads Stimme aus dem Salon. Ich spähte hinein und sah ihn neben Boyer in Moms Stuhl sitzen. Mein Vater hielt ein Dr.-Seuss-Buch in den Händen und las laut daraus vor.
Ich ging rückwärts in die Küche zurück und wandte mich an meine Mutter: »Wann hat Dad …?«, flüsterte ich.
Zum ersten Mal seit dem Sommer fiel zwischen uns dieser Name: »River«, sagte sie, »hat es ihm beigebracht. Deswegen hat er ihn auf der Milchtour begleitet. Sie haben jeden Tag bei Gentry’s haltgemacht und in einer hinteren Sitzecke des Lokals gelernt.«
Ich ging zurück und blieb in der Tür stehen. Mein Vater konzentrierte sich auf die Wörter, während Boyer, der sich im Lehnstuhl zurückgelegt hatte, mit geschlossenen Augen seinem Vortrag lauschte. Ein Lächeln kräuselte die rechte Seite seiner Lippen. Ich wandte mich ab, sah aber gerade noch, wie über die gespannte Haut unter seinem rechten Auge etwas Feuchtes rann. Von der Küche aus hörte ich meinen Vater die einfachen Worte über grüne Eier und Schinken vorlesen, als ginge es um die wichtigste Sache der Welt.
Danach änderte sich etwas für Boyer. Jeden Nachmittag saßen er und Dad zusammen im Salon, während Dad ihm vorlas. Bald wanderten sie an den Küchentisch weiter, wo Bücher vor ihnen ausgebreitet waren. Ende Januar las mein Vater tatsächlich die Zeitung.
Boyer zog wieder hinauf in das Dachzimmer. Er nahm für die Mahlzeiten seinen alten Platz am Tisch ein und fing an, mit Mom in der Molkerei zu arbeiten. Und je mehr er wieder Anschluss an die Welt fand, desto mehr zog ich mich aus ihr zurück.
Ich weigerte mich, zum Abendessen zu erscheinen, und schlich mich erst später, wenn alle schliefen, hinunter und plünderte die Küche. Eines Nachts, Mitte Februar, füllte ich meinen Teller im Schein des Kühlschranklämpchens.
»Wie lange soll das noch so weitergehen, Natalie?« Die Stimme meiner Mutter schreckte mich auf. Sie stand im Nachthemd in der Tür zum Salon.
»Was denn?«, fragte ich und machte den Kühlschrank zu.
Mom seufzte und schaltete die Küchenlampe ein. Sie kam zu mir, legte mir die Hände auf die Schultern und drehte mich herum, damit ich in den Spiegel schauen konnte, der in einem Eichenholzrahmen an der Küchenwand hing. Ich wusste, wie ich aussah, wie ich dastand in einem bekleckerten Schlabberhemd und einer Trainingshose, in Sachen, die ich Tag und Nacht anhatte. Es war mir egal. Ich drehte mich von ihr weg und ging auf die Treppe zu, über einen Teller mit Butterbroten, Käsebrocken und einem Stück Apfelkuchen gekrümmt.
»Boyer lernt, mit seinen Narben zu leben«, sagte sie müde. »Warum kannst du es nicht auch versuchen?«
Weil seine Narben meine Schuld sind, wollte ich hinausschreien. Ich wollte es ihr erzählen, aber ich blieb stumm und verdrossen. Wie hätte sie mich noch lieben können, wenn sie die Wahrheit wüsste?
In derselben Nacht wachte ich von meinem eigenen dumpfen Stöhnen auf.
Ein paar Minuten später hörte ich Boyers Stimme. Er öffnete die Tür. »Geht’s dir nicht gut?«, fragte er von der Tür aus.
Ich fühlte, wie er dastand, so wie früher, wenn ich als Kind aus einem Albtraum aufschreckte. Einen Moment lang war es, als wäre alles wieder so.
»Doch, mir geht’s gut«, sagte ich. »Ich muss geträumt haben.«
»Ich habe dich von meinem Zimmer aus gehört«, sagte er. »Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?«
»Es sind nur Magenschmerzen«, antwortete ich.
Er kam herein und knipste das Nachttischlämpchen an. Ich sah, wie seine vernarbten Finger über den mit Krümeln bedeckten Teller langten – der Beweis dafür, dass ich mich wieder einmal so lange mit Essen vollgestopft hatte, bis mir schlecht geworden war.
Nachdem er gegangen war, legte ich mir ein Kissen auf den Bauch und sank in einen leichten Dämmerschlaf, aus dem ich
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