Milner Donna
Außerdem habe ich ihn geliebt.«
Am nächsten Morgen sah ich von meinem Fenster aus zu, wie sie den Rosengarten zerstörte, der für sie ein unerfülltes Versprechen darstellte. Während meine verdutzten Brüder dastanden und glaubten, sie sei vor Kummer verrückt geworden, habe ich verstanden.
*
Die Krankenhausgänge im dritten Stock sind schwach beleuchtet. Die Schwester im Stationszimmer blickt auf. »Frau Doktor«, sagt sie mit einem Nicken, als sie Jenny erkannt hat. Der Geruch nach Tod und Leiden hängt schwer in der Luft. Mein Vater hatte recht: Das ganze Talkumpuder und das ganze Einreiben mit Alkohol können diesen Geruch nicht übertönen. Jenny scheint dagegen immun zu sein, und ich weiß, dass ich ihn in ein paar Minuten auch nicht mehr wahrnehmen werde.
Die Tür zu Moms Zimmer steht offen. Ein Nachtlicht leuchtet an der Wand hinter ihrem Bett. Wir gehen auf Zehenspitzen hinein, weil wir sie nicht aufwecken wollen. Sie sieht so winzig aus, so verloren zwischen den weißen Laken.
Es hat in ihren Lungen angefangen. Meine Mutter, die nie eine Zigarette geraucht hat, sollte nun den Preis bezahlen, der meinem Vater erspart geblieben ist. Doch selbst jetzt, während diese Krankheit sie von innen heraus zerfrisst, ist ihre Haut die einer viel jüngeren und gesunden Frau. Mit achtundsiebzig ist meine Mutter immer noch schön.
Auf den ersten Blick scheint sie friedlich zu schlafen. Dann sehe ich, wie rasch sich ihre Augäpfel unter den durchscheinenden Lidern bewegen – als müsste sie in ihren Träumen kämpfen. Ich nehme ihre Hand, und ihre Finger legen sich reflexhaft wie die eines Babys um meine Finger.
Auf der anderen Seite des Bettes schnalzt Jenny mit dem Finger gegen den Infusionsschlauch. »Es kommt kein Morphium mehr nach«, flüstert sie. »Ich hole die Schwester.«
Meine Mutter schlägt die Augen auf. Sie greift nach oben und umklammert Jennys Hand. »Nein.« Ihre Stimme ist schwach, aber sie hält nun Jennys und meine Hand fest. Ich staune, wie kräftig ihr Griff ist.
»Natalie«, lächelt sie zu mir herauf. »Ich habe auf dich gewartet.«
Als wäre sie gerufen worden, erscheint die Schwester an der Tür, eine Spritze in der Hand. »Sie wollte kein Morphium haben, bis Sie da sind«, flüstert sie. Sie tritt ans Bett und lächelt zu Mom hinunter. »Oh, Sie sind wach, Nettie«, sagt sie. »Die wird in ein paar Minuten wirken.« Geschickt drückt sie die Spritze in die Verweilkanüle des Infusionsschlauchs.
»Warten Sie«, sagt Mom. Sie ringt nach Luft. »Ich habe …« Ein verschleimter Husten sorgt dafür, dass ihr die Worte in der Kehle stecken bleiben. Sie murmelt etwas Unverständliches. Jenny rückt zur Seite, damit ich mich vorbeugen kann.
»Ich habe das Baby weinen hören«, flüstert Mom mir ins Ohr.
»Das Baby?« Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden habe.
»Ach«, meldet sich die Schwester zu Wort, »in diesem alten Gemäuer gibt es ständig seltsame Geräusche. Manche Bewohner meinen, es wären die Nonnen, die sich in den Schränken verstecken. Ihre Mutter hört Babys weinen.«
»Es ist schon gut, Mom«, beruhige ich sie und streichle ihr über die Stirn. »Es ist gut, hier gibt es keine Babys mehr.«
Aber sie wird unruhig und zieht mich näher zu sich heran. »Nein«, keucht sie in mein Ohr. Es scheint sie jedes Quäntchen Energie zu kosten, das ihr verblieben ist. »Nein, Natalie«, sagt sie. »Ich habe dein Baby weinen hören.«
41
Nettie
S IE HAT ES ERTASTET. Nettie hat es in dem Augenblick gefühlt, als sie die Hand auf Natalies Bauch legte. Statt elastisches Fleisch und Fettschichten, wie sie erwartet hatte, fühlten ihre Finger die gespannte Haut eines prallen Unterleibs.
Noch immer sagte sie sich das Gleiche, was sie auch zu Boyer und ihrem Mann sagte: »Es ist der Blinddarm.«
Während die Reifen des Trucks über den frischen Schnee knirschten, hielt sie auf der langsamen Fahrt in die Stadt ihre Tochter in den Armen und sagte ihr dasselbe. Bis sie am St.-Helena’s-Krankenhaus eintrafen, glaubte sie es selbst.
Im blendenden Licht der leeren Notaufnahme stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus, als Dr. Mumford im OP-Kittel hereinstürmte. Wirres Haar stand unter einer grünen Kappe hervor. Eine Operationsmaske hing ihm um den Hals. Er sah aus, als wäre er die ganze Nacht auf den Beinen gewesen.
Nettie wiederholte ihm ihre Diagnose.
Wortlos tasteten seine erfahrenen Finger Natalies rechte Seite ab, dann hielt er beide Hände
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