Milner Donna
griff in seine Jackentasche und nahm das silberne Zigarettenetui heraus. Ich versuchte, sein schiefes Lächeln zu erwidern. Er beugte sich zu seinen abschirmenden Händen hinunter, um seine Zigarette anzuzünden, doch zuvor hatte ich aus seinen Augen herauslesen können, welchen Tribut der Kampf, die Farm am Leben zu erhalten, von meinem Vater forderte.
Er kurbelte das Fenster ganz herunter und stieß eine Rauchwolke aus. »Deine Mutter und ich wollen, dass du weißt, dass du, wenn du nach Hause kommen möchtest – das heißt, wann immer du so weit bist –, also in dem Augenblick, wenn du denkst, dass du zurückkommen kannst, rufst du uns einfach an und nimmst den nächsten Bus nach Hause.«
Ich überlegte, ob er das wirklich glaubte: dass ich je so weit sein würde, zurückzukommen und mich dem Klatsch, der Stadt, Boyers ruiniertem Leben und den Gespenstern zu stellen. Oder ob er das überhaupt wollte.
Ich jedenfalls wollte weg. Ich wollte meiner Familie die ständige Erinnerung an die Katastrophe ersparen, die ich ausgelöst hatte. Doch als der Bus abfuhr, als ich sah, wie der Truck meines Vaters immer kleiner wurde, konnte ich dem Schmerz, der sich meiner bemächtigte, nichts entgegensetzen.
In diesem Moment war ich überzeugt, dass ich meinen Vater nie wieder sehen und niemals wieder hören würde, wie er »mein Sonnenkind« zu mir sagte.
Ich sollte recht behalten.
43
D IE G ROßSTADT VERSCHLANG MICH mit Haut und Haar. Es war leicht, unsichtbar zu werden, mitgespült in der Flut von Schülern, die durch die Gänge der Highschool strömten und deren Zahl allein schon die der gesamten Einwohnerschaft von Atwood überstieg. Im Haus der Becketts war das Untertauchen dagegen nicht so einfach.
Die Familie Beckett wohnte in einem zweistöckigen Nachkriegshaus in East Vancouver. Es war eines der vielen gleich aussehenden Gebäude, die die kanadische Regierung Anfang der Fünfzigerjahre für die wachsende Zahl von Familien von Veteranen des Zweiten Weltkriegs errichtete.
Das Haus ihres Bruders war nicht ganz so groß, wie die Witwe Beckett glaubte, aber es verfügte über vier Schlafzimmer und ein klitzekleines Badezimmer, in dem man sich kaum umdrehen konnte, für sechs Kinder und zwei Erwachsene. Und dann auch noch für mich. Ich schlief oben, im Mädchenzimmer, auf einem Klappbett.
Die beiden Schwestern, Judy und Jane, lagen sich, solange sie wach waren, pausenlos in den Haaren. Ihr Zimmer war durch eine unsichtbare Grenze, die mitten durch mein Campingbett führte, in Zonen aufgeteilt. Und so geriet ich entweder zwischen die Fronten oder wurde ignoriert.
Die vier Jungen waren völlig ungebärdig. Anders als im Fall meiner Brüder gab es für sie keine Pflichten, keine Routinetätigkeiten, die sie diszipliniert hätten. Wie wild gewordene Frettchen jagten sie einander Tag und Nacht die Treppen auf und ab und schlugen beim Hinausgehen und Hereinkommen jedes Mal die Türen zu.
Im Haus herrschte ständiger Lärm. Türen, Schränke und Schubladen wurden hier niemals leise geschlossen, sondern zugeknallt, oft, wie zur Steigerung des allgegenwärtigen Chaos, gleich zweimal hintereinander.
Wann immer Mr. und Mrs. Beckett zur gleichen Zeit im Hause waren, erfüllten sie die Luft mit wirbelndem Zigarettenqualm und zornig klingenden Worten. Die übliche Art der Unterhaltung war Geschrei, und ihre Worte gingen unter in dem Bemühen, überhaupt etwas zu hören.
Mahlzeiten wurden irgendwo hinuntergeschlungen, wo man sich gerade befand, meistens vor dem unablässig plärrenden Schwarz-Weiß-Fernseher im winzigen Wohnzimmer. Wenn sich zwei oder mehr Leute in demselben Raum aufhielten, was fast immer der Fall war, sprachen alle gleichzeitig, und jeder versuchte verzweifelt, sich Gehör zu verschaffen.
Ich mochte die Beckett-Kinder ganz gern, sie waren einfach nur anders. Und das spürten sie auch. Wie Tiere beschnupperten wir uns, um zu dem Schluss zu kommen, dass wir unterschiedlichen Spezies angehörten. Sie empfanden die Farmgerüche, die, wie sie mir erklärten, alles durchdrangen, was ich besaß, als unangenehm. Ich erwähnte nicht, dass sie alle nach dem Moder ihrer ewig feuchten Stadt rochen.
Ich mied ihre Gesellschaft nicht, aber ich suchte sie auch nicht. Es war unmöglich, sich als Teil einer Familie zu begreifen, deren Mitglieder zwar ständig auf den engen Fluren zusammenstießen, aber alle völlig separate Leben führten. Und obwohl es keinen Winkel gab, in den man sich hätte zurückziehen
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