Milner Donna
weißt du es?«
»Ich habe schon vor Jahren die Gerüchte gehört«, antwortet sie. »Es ist eine kleine Stadt, Mom.«
»Und warum hast du nichts gesagt?«
»Ich bin davon ausgegangen, dass du es mir erzählt hättest, wenn du gewollt hättest, dass ich es weiß.«
»Es gab keinen Grund dafür. Das Baby hat nicht gelebt.« Allerdings auch keinen Grund, es nicht zu erzählen. Warum habe ich nichts gesagt? Ich bin mir sicher, dass Jenny als Ärztin schon viel schockierendere Bekenntnisse gehört hat. Aber nicht von ihrer Mutter.
»Ich habe nicht einmal gewusst, dass ich schwanger war«, erzähle ich jetzt. »Und als das Baby dann tot zur Welt kam, war es, als wäre es nicht mehr als eine Fehlgeburt gewesen.«
»Wirklich?«
Ich zögere und sage dann: »Nein.«
»Es war das Baby, von dem Gram heute Abend gesprochen hat, nicht wahr?«, fragt Jenny.
»Ich weiß nicht, wovon sie gesprochen hat«, seufze ich.
Mom hatte angefangen, wirres Zeug zu reden, und ich hatte versucht, sie zu beruhigen. Sie murmelte etwas von Father Mac und Dr. Mumford, bis die Wirkung des Morphiums einsetzte. Es macht mich traurig, dass meine Mutter immer noch von meinen Verfehlungen verfolgt wird. »Deine Großmutter und ich haben niemals darüber gesprochen, über das Baby. Aber es kann nicht sein, dass sie es hat weinen hören. Das Baby war zu früh gekommen, hat keinen einzigen Atemzug getan. Es kam tot auf die Welt.«
»Nein.« Jennys Stimme ist leise, fast ein Flüstern. »Nein, der Kleine war nicht tot.«
Mir ist, als würde mir ein glühender Stein auf die Brust gedrückt. »Was? Was sagst du da? Das Kind ist tot auf die Welt gekommen! Dr. Mumford, die Nonnen, sie haben gesagt …« Ich schüttle den Kopf. »Nein, das Baby hat nicht gelebt.«
Jenny beugt sich vor, nimmt meine beiden Hände und zwingt mich, ihr in die Augen zu sehen. »Mom, hör zu. Du weißt, dass in jener Nacht zwei Babys geboren wurden. Es war das andere Baby, Ruth’ Baby, das nicht gelebt hat.«
Obwohl ihre Stimme sanft klingt, spüre ich die Eindringlichkeit, ihr doch zu glauben. »Ich weiß nicht, wie ich es dir sonst beibringen soll, aber es ist wahr«, sagt sie.
Verwirrt rast mein Verstand, um sich einen Reim auf ihre Worte zu machen und irgendein Dementi zu finden, während ich meine Hände zurückziehe. »Nein! Das stimmt nicht. Das ist unmöglich – wie kann – nach all diesen Jahren? Wie …?«
»Es gab eine Anfrage nach den Unterlagen der Mutter eines männlichen Babys, das am 12. Februar 1969 geboren wurde«, sagt sie. »Aber in den Papieren hat etwas nicht gestimmt. Es waren für das besagte Datum zwei Geburten verzeichnet, beide von derselben Mutter. Beide von Ruth, im Abstand einiger Stunden. Die Sachbearbeiterin hat Nick und mir die Unterlagen gezeigt. Nick hat seinen Großvater zur Rede gestellt. Zuerst hat der alte Dr. Mumford behauptet, es handle sich um einen Fehler. Er hat darauf bestanden, dass in jener Nacht nur ein Baby geboren wurde. Er hat sich geweigert, die Unregelmäßigkeit auch nur einzuräumen. Aber schließlich hat er es aufgeben und gestanden. Das Baby, das gelebt hat, dein Baby, ist den Adoptiveltern gegeben worden, die auf Ruth’ Kind warteten.«
In dem Zimmer ist nicht genug Luft. Ich kann meine Lungen nicht füllen. Ich will nichts mehr hören. Ich stehe auf, um das Fenster zu öffnen und die kühle Luft einzuatmen. »Nein«, beharre ich, den Rücken ihr zugekehrt, »das kann nicht stimmen. Die Nonnen haben es mir gesagt! Sie hätten nicht gelogen.«
»Haben dir die Nonnen tatsächlich gesagt, dass dein Baby gestorben ist?«, fragt sie sanft.
Zu früh auf die Welt gekommen. Ich habe den nüchternen Ton der Nonne nie vergessen, als sie am nächsten Morgen diese Worte aussprach. »Ein kleiner Junge, zu früh auf die Welt gekommen.« Und plötzlich schlage ich einen Bogen zu dem, was mir Boyer empfohlen hatte, als ich ein Kind war, zur Diskretion, zu seinem Rat, die Worte sorgsam zu wählen, um die Wahrheit zu umgehen, den Schmerz.
Ich fahre herum. »Das reicht jetzt!«, sage ich und kämpfe mit der Hysterie, die in meiner Stimme ansteigt. »Ich will nichts mehr davon hören. Das Gespräch ist beendet.«
»Aber du musst …«
»Nein, nein, ich muss gar nichts. Dieses Kind war vor vierunddreißig Jahren für mich tot, und es ist jetzt für mich tot. Warum die Vergangenheit aufwühlen? Warum wolltest du mir das überhaupt so dringend mitteilen?«
Aber ich kenne die Antwort, bevor sie sie ausspricht.
»Weil
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