Milner Donna
weggegeben hatte. Weil ich keine unerwünschten Erinnerungen wecken oder sie in Verlegenheit bringen wollte, erkundigte ich mich bei Morgan, ob sie je nach ihrem Baby gesucht hätten. Er sagte mir, dass er das gewollt, sie sich aber geweigert habe. Vielleicht ist es, wie Mom immer sagt, auch besser so. Man kann die zerbrochenen Teile seines Lebens nicht zusammenkitten.
In Vancouver stürzte ich mich auf die Schule. Und jeden Nachmittag warf ich im Hastings Street Bus eine klirrende Münze in einen Glasbehälter und fuhr ins Zentrum, zur Stadtbibliothek. Dort machte ich meine Hausaufgaben und genoss die gedämpfte Stille und den vertrauten Geruch von Büchern.
Dann saß ich da und las, bis die Bücherei schloss. Nach ein paar Monaten muss jemand entweder Mitleid mit mir bekommen oder sich gedacht haben, dass ich, wenn ich schon so viel Zeit dort verbrachte, genauso gut arbeiten könnte. Man bot mir einen Job nach dem Schulunterricht an. Ich nahm ihn an. Für den Rest des Schuljahrs schlief ich im Haus der Becketts, aber mein Zuhause war die Bibliothek. Im Sommer teilte ich dann meinen Eltern mit, dass ich lieber Bücher katalogisieren als Milch ausliefern würde.
Nachdem ich meinen Highschoolabschluss gemacht hatte, fing ich an, für ein Gemeindeblättchen zu arbeiten, und vollzog später den Aufstieg zur Vancouver Sun .
Ich heiratete den ersten Mann, der mir einen Antrag machte, bevor mir klar wurde, dass ich gar keines Retters bedurfte.
44
D ER S AUERSTOFFBEHÄLTER DRÖHNT in der Stille des Krankenzimmers. Ich sitze am Bett meiner Mutter und sehe ihr beim Atmen zu.
»Mom«, unterbricht Jennys leise Stimme meine Trance. »Das Morphium hat gewirkt, Gram wird wahrscheinlich die Nacht durchschlafen. Warum gehen wir nicht nach nebenan und checken dich ein?«
Jetzt, da ich hier bin, habe ich Angst zu gehen. Aber ich nicke und lasse mich von meiner Tochter wie ein widerstrebendes Kind hinausführen.
In meinem Zimmer im Alpine Inn setze ich mich und trinke einen Schluck Sherry. In dem zweiten der beiden zueinander passenden Ohrensessel mit dem blauen Paisleybezug wartet Jenny ab, bis ich es mir in meinem bequem gemacht habe.
Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. »Hast du viele Erinnerungen an deinen Vater?« Jennys Vater, mein erster Mann, starb, bevor sie acht war.
Sie denkt über die Frage nach. »Ja und nein«, antwortet sie schließlich. »Manchmal glaube ich, dass ich mich nur an das erinnere, was du mir im Laufe der Jahre über ihn erzählt hast, beziehungsweise an das, was ich auf unseren alten Bildern sehe. Ich erinnere mich aber, dass seine Hände, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, mit Druckerschwärze gefärbt waren. Und ich erinnere mich, dass er mir abends vorgelesen hat. Aber sein Gesicht kann ich mir kaum vorstellen.« Sie schweigt einen Moment und fragt dann: »Hast du ihn geliebt?«
Ich lächle sie an. »Weißt du, dass ich deine Großmutter einmal dasselbe über meinen Vater gefragt habe? Ja, ich glaube, ich habe ihn geliebt, so sehr, wie ich damals zu lieben imstande war. Ich war so jung und habe nach einem Retter Ausschau gehalten. Wahrscheinlich habe ich mich eher in die Illusion verliebt, die ich von ihm hatte. Er war älter, der Herausgeber einer Zeitung. Und er hat sehr gut ausgesehen.«
»Er sah aus wie Onkel Boyer«, sagt Jenny.
Wirklich? Ja, das stimmt in gewisser Hinsicht. Komisch, dass ich bis jetzt nicht darauf gekommen bin.
»Ken auch«, sagt sie, »und Bert.«
Ihre Worte verblüffen mich, und ich erkenne, wie zutreffend diese Beobachtung ist. Alle Männer in meinem Leben, bis auf Vern, haben Ähnlichkeit mit Boyer. Und mit River, auch wenn dies Jenny nicht bewusst sein dürfte. Was sie damit unterstellt, macht mich betroffen. Ist es das, was ich tue? Die Männer verlassen, davonlaufen, wenn ich merke, dass sie nicht Boyer – beziehungsweise River – sind?
Und Vern? Was sagt es über ihn aus? Vern mit seinen braunen Augen und dem dichten schwarzen Haar. Er hat gar nichts von den anderen, er ist kein Lehrer, kein Zeitungsmensch, kein Schriftsteller. Wie mein Vater hat Vern Schmutz unter den Fingernägeln. Und mit ihm bin ich am längsten zusammen.
Ich bin zu erschöpft, um mir jetzt darüber Gedanken zu machen. Ich stelle das leere Glas auf den Nachttisch und stemme mich hoch.
»Ich weiß über das Baby Bescheid«, sagt Jenny leise.
Aha, so ist das. Darüber also konnte sie nicht am Telefon sprechen. Ich sinke in meinen Sessel zurück. »Seit wann
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