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Milner Donna

Milner Donna

Titel: Milner Donna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: River
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oben sah ich zu, wie die letzten Februartage sich an der Landschaft austobten. Dann wurden die Tage länger und milder. Die Eiszapfen vor meinem Fenster weinten dicke Tränen, schrumpften und verschwanden. Auf den Straßen traten Schnee und Eis den Rückzug an und verwandelten unseren Bauernhof wie jedes Frühjahr in einen Matsch aus Dreck und Dung.
    Während dieser ganzen Zeit brachte meine Mutter Tabletts nach oben und stellte sie vor meiner Tür ab. Ihre Versuche, mich davon zu überzeugen, dass ich mein Zimmer verlassen sollte, hatte sie aufgegeben, und sie redete mir auch nicht mehr zu, wieder in die Schule zu gehen. Ich wusste nicht, ob mich ihre stillschweigende Kapitulation erleichterte oder betrübte.
    Doch am Abend hörte ich sie oft Klavier spielen. Solange die Musik durch das Flurgitter nach oben und in mein Zimmer drang, vergrub ich das Gesicht im Kissen.
    Ich fing wieder an, mich mitten in der Nacht oder wann immer ich allein im Haus war, nach unten zu schleichen. Doch jetzt ging es nicht mehr ums Essen. Ich streifte vielmehr durch die Zimmer, um mir die vertrauten Einrichtungsgegenstände unseres Hauses einzuprägen. Meine Hand strich über das Wachstuch auf dem Küchentisch, das Sideboard mit der Marmorplatte, den Brotkorb aus Holz, der immer nach frisch gebackenem Brot roch, die mit Porzellan gefüllte Vitrine im Salon, den Esszimmertisch aus Eichenholz und das Klavier. All die Dinge, die daran erinnerten, dass ich einmal Teil dieser Familie war. Ich stand im Dunkeln und starrte hinauf auf das kolorierte Bild von unserer Farm und auf die lächelnden Gesichter auf dem Familienfoto, das auf dem Klavierdeckel stand.
    Dann nahm ich das Gefühl mit nach oben, dass alles noch wie früher sei, und versuchte, mir das auch einzureden.
    »Sie kann nicht ewig da oben bleiben«, sagte mein Vater eines Abends im März so laut, dass seine Stimme durch die Flurgitter zu mir heraufdrang.
    Eine Woche später saß ich neben ihm im Führerhaus des Milchtrucks. Die Ausläufer eines Frühlingssturms bliesen den letzten Schnee von den sich wiegenden Bäumen. Der Wind rührte auf der Straße vor uns ein weißes Gestöber auf. Ich widerstand der Versuchung, mich umzudrehen und einen letzten Blick auf mein Zuhause zu werfen. Ich hatte es mit einer Entschlossenheit verlassen, als säße ich bereits in dem Bus, zu dem mein Vater mich fuhr. In jenem Bus, der mich weg von diesem Ort, weg von meiner Familie, weg von meinem Leben in den unbekannten Abgrund der Großstadt bringen würde.
    Auf diese Lösung war die Witwe Beckett gekommen. Als Mom sich an mein Bett setzte und mir von dem Angebot berichtete, blieb ich stumm. Ich hatte alles schon von meinem Zimmer aus gehört.
    »Natalie zuliebe, deiner ganzen Familie zuliebe«, hatte die Witwe zu Mom gesagt. »Du musst sie von hier wegbringen.«
    Ich hatte auch die Telefonate mit dem Bruder der Witwe Beckett und seiner Frau in Vancouver mitbekommen.
    »Sie haben ein großes Haus«, erklärte die Witwe. »Sie nehmen immer Pflegekinder auf – eines mehr oder weniger in diesem Haus, das fällt gar nicht auf.«
    Mein Zimmer und meine Beköstigung sollten aus Moms sorgsam gehortetem Eiergeld bezahlt werden. »Es ist nur für den Rest des Schuljahrs«, sagte sie zu mir. »Du musst aufholen, sonst schaffst du den Abschluss nicht.«
    Mein Einverständnis signalisierte ich durch ein Schulterzucken.
    Am Tag meiner Abreise stand sie, als ich mit meinen Koffern herunterkam, am Küchentisch und hatte mir den Rücken zugekehrt. Auf dem Tisch warteten mit Teig ausgekleidete Kuchenformen darauf, gefüllt zu werden. Eine Schale mit tiefgefrorenen Heidelbeeren, Boyers Lieblingsspeise, taute im Spülbecken auf. Mom schlug mit dem Nudelholz auf dem Teig herum, als hinge ihr Leben davon ab.
    Ich zögerte einen Moment, bevor ich mit meinen Koffern die Fliegengittertür aufstieß und hinausging. Sie kam nicht hinter mir her. Ich kehrte nicht um. Wir waren beide nicht bereit, uns dem schmerzlichen Augenblick des Abschiednehmens auszusetzen.
    »Es ist nicht für lange«, hatte sie am Abend zuvor beim Hinausgehen gesagt. Wir wussten wohl beide, dass das nicht wahr war.
    Dad und ich fuhren schweigend bis zur Abbiegung auf den Highway, wo wir auf den Greyhound warteten. Wir starrten beide die Straße hinunter, als könnten wir so den Bus schneller herbeizwingen.
    »Tja, das wird ein schönes Abenteuer werden – was, mein Sonnenkind?«, sagte mein Vater schließlich. »Ab in die große Stadt, hm?« Er

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