Milner Donna
können, war es leicht, in diesem Haus einsam zu sein.
Ich versuchte, ihr Leben nicht mit dem meiner Familie zu vergleichen. Denn ich wusste bereits, dass diese Lebensweise nicht mehr existierte. Nachts lag ich auf meinem schmalen Klappbett und bemühte mich, das Heimweh zurückzudrängen, das mich zu überwältigen drohte. Mit der Zeit würde ich den Lärm des Hauses, der Stadt, das ununterbrochene Brummen des Verkehrs nicht mehr hören. Ich würde nachts nicht mehr zum Himmel hinaufschauen in der Hoffnung, ein sternenübersätes Firmament glänzen zu sehen wie zu Hause.
Jede Woche rutschte durch den Schlitz in der Eingangstür ein Brief von meiner Mutter, der voll war mit unterhaltsamen Neuigkeiten über Leute und eine Stadt, die ich lieber vergessen wollte. Ich lächelte, als sie mir mitteilte, dass Morgan mit Ruth korrespondierte, die wieder auf den Queen Charlotte Islands lebte. »Ich glaube, er schreibt jetzt mehr als während seiner gesamten Schulzeit«, meinte Mom.
Als ich aber Folgendes las, zuckte ich zusammen:
Der hiesige Klatsch bekommt immer neue Nahrung. Gestern berichtete Mama Cooper, sie habe gehört, dass deine Freundin Elizabeth-Ann Ryan und ihre Mutter jetzt in Calgary wohnen. Ihr Vater ist allein nach Atwood zurückgekehrt, aber niemand bekommt ihn zu Gesicht. Er ist ein Einsiedler geworden, Tag und Nacht in seinem Haus eingesperrt. Lebensmittel werden vor seiner Türschwelle abgestellt. Und Alkohol. Er trinkt, um zu vergessen, wird gemunkelt. Stell dir das vor – vom Bürgermeister der Stadt zum Trunkenbold der Stadt! Ich muss sagen, es überrascht mich nicht. Ich habe immer geglaubt, dass bei diesem Mann irgendetwas nicht ganz stimmt.
Er ist nicht mehr Bürgermeister, macht aber immer noch Ärger. Anscheinend ging es bei der letzten Amtshandlung, die er vornahm, darum, den Gemeinderat zu bewegen, uns unsere Geschäftslizenz zu entziehen. Mr. Atwood und sein Sohn, Stanley junior, hielten, als sie davon Wind bekamen, zusammen mit Dr. Mumford im Rathaus eine Protestversammlung ab.
Dad gewann den Kampf und durfte seine Lizenz, weiterhin unpasteurisierte Milch zu liefern, behalten, aber am Ende knickte er ein und verkaufte doch an die großen Molkereien. Ich war froh, dass ich nicht dort war und sehen musste, wie mein Vater reagierte, als die ersten Trucks mit den Edelstahltanks bei uns vorfuhren.
»Vielleicht ist es besser so«, schrieb Mom. »Ich glaube, die Jungs sind wahrscheinlich sogar erleichtert. Jetzt, da der Stall automatisiert ist und direkt en gros verkauft wird, gibt es bestimmt nicht genügend Arbeit, um sie alle hier festzunageln. Vielleicht kann Boyer schließlich doch an die Universität gehen«, fügte sie munter hinzu. Aber ich wusste, dass dies für sie nur eine weitere Station in der Reihe von Tragödien war, die unsere Familie auseinanderriss.
Am Ende war es nicht Boyer, der wegging. Bald nach Dads Tod reiste Morgan für einen Angelurlaub auf die Queen Charlotte Islands. Und um Ruth zu besuchen. Als er zurückkam, gab er bekannt, dass er auf die Inseln ziehen würde.
»Morgan wird auf einem Fischerboot für Ruth’ Vater arbeiten. Anscheinend hat er auf seiner Reise mehr als nur Fische an die Angel bekommen. Morgan hat sich in die Westküste verliebt, in das Meer und am allermeisten in Ruth. Ich freue mich für sie. Ich finde Ruth einfach wunderbar. Aber es ist so weit weg.« Mom fügte hinzu, sie sei sicher, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis auch Carl dorthin übersiedeln würde.
Und tatsächlich: Kurz nachdem Morgan fortgezogen war, folgte Carl ihm nach. Seither leben sie alle dort. Morgan und Ruth haben geheiratet, aber wenn man bedenkt, wie sie sich kennengelernt haben, entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass sie keine Kinder haben.
»Ruth hat zwei Ehemänner zum Preis von einem bekommen«, schrieb Mom später einmal. »Auch wenn Carl nicht bei ihnen wohnt, liegt sein Haus doch nur einen Steinwurf entfernt. Nah genug, um die meisten Mahlzeiten mit seinem Bruder und dessen Frau gemeinsam einzunehmen.«
Doch Ruth scheint das nichts auszumachen. Wann immer ich sie im Laufe der Jahre gesehen habe, strahlte ihr scheues Gesicht nur Liebe und Schicksalsergebenheit aus. Allerdings habe ich einmal, als sie uns besuchten, einen Blick aufgefangen, der durch ihre Augen zuckte, als sie beobachtete, wie Morgan und Carl mit ihrer kleinen Nichte Jenny spielten.
Ich habe mich oft gefragt, ob Ruth jemals versucht hat, das Kind zu finden, das sie bei seiner Geburt
Weitere Kostenlose Bücher