Milner Donna
die der junge Mann beauftragt hat. Ich habe mit einer Vertreterin dieser Agentur gesprochen. Es hieß, er würde nicht nach seiner leiblichen Mutter suchen. Er wolle nicht in ihr Privatleben eindringen. Aber weil er nunmehr selbst eine Familie hat, hätte er gern Einblick in die Krankengeschichte seiner Herkunftsfamilie.«
Seine kraftlose Hand griff in die tiefe Tasche seines Mantels. »Was ich Ihnen geben kann«, sagte er, »ist das hier.« Er hielt ein zusammengefaltetes Papier hoch. »Das ist die Kontaktnummer der Detektei, die in seinem Auftrag angefragt hat.«
Nettie sah, wie Boyer dem Priester den Zettel aus der Hand nahm.
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D ER BERNSTEINFARBENE S CHEIN der Nachttischlampe fällt auf Jennys Gesicht. Eine Motte hat sich zwischen der Glühbirne und dem Lampenschirm verfangen. Ich höre, wie sie sich in ihrem verzweifelten Fluchtversuch hin und her wirft und immer wieder mit einem dumpfen Geräusch abprallt.
»Und ich?«, frage ich mit zittriger Stimme. Ich stehe mit verschränkten Armen am Fenster. »Warum hat mich niemand angerufen, mit mir geredet? Ihr hattet kein Recht, nach ihm zu suchen, ihn ausfindig zu machen.«
»Er hat uns ausfindig gemacht«, sagt Jenny.
Ich sehe, wie ihre Erregung wächst, während sie sich zu erklären beeilt: »Onkel Boyer hat ihm über die Detektei, die nach seinen Geburtspapieren forschte, eine Nachricht zukommen lassen. Und er hat sofort zurückgerufen. Onkel Boyer hat ihm die Umstände seiner Geburt erklärt. Ihm gesagt, wie krank seine Großmutter …«
»Hat denn niemand innegehalten und überlegt, ob er nicht zuerst mich fragen sollte?« Die aufgeheizte Angst verwandelt sich plötzlich in einen Wutanfall. Ich knalle das Fenster zu. »Ihr hattet kein Recht, für mich zu entscheiden!«
»Ich weiß. Wir wissen das. Aber alles ist so schnell gegangen! Es blieb wirklich keine Zeit. Er hat gestern angerufen, um mitzuteilen, dass er morgen von Vancouver herauffliegt. Niemand von uns wollte dir das am Telefon eröffnen«, sagt sie. »Gram wollte es dir selbst erzählen. Das ist es, was sie dir heute Abend erklären wollte.«
Ich schaue Jenny an und spüre, dass ich dabei die Augen zusammenkneife. »Schön, aber ich will ihn nicht sehen. Ich will seinen Namen nicht wissen. Es ist mir egal …« Ich rede wirres Zeug, kann mich aber nicht bremsen. »Ihr habt ja keine Ahnung, was ihr mir da zumutet!«
Ich sehe die Enttäuschung in Jennys Gesicht. Natürlich hat sie damit gerechnet, dass ich schockiert reagieren würde, aber diesen Widerstand, meinen eigenen Sohn kennenzulernen, kann sie nicht nachvollziehen. Sie glaubt, sie alle glauben, dass dies das Kind meines Teenagerschwarms ist. Sie sind alle bereit, ja geradezu erpicht darauf, ihn als Familienmitglied anzunehmen. Wenn es doch nur so einfach wäre! Wenn er nur das wäre, was sie glauben – Rivers Sohn.
Mich überfällt plötzlich große Müdigkeit. Ich kehre ihr den Rücken zu und greife nach meinem Koffer. »Es war ein langer Tag. Ich gehe ins Bett.«
Ich weiß, dass meine Stimme matt klingt und keineswegs den Widerstreit der Gefühle in mir ausdrückt.
Hinter mir höre ich, wie Jenny aufsteht. »Er heißt Gavin«, sagt sie verstimmt. »Er ist Pilot.«
Als ich keine Antwort gebe, geht sie zur Tür. »Er ist dein Sohn, Mom«, fügt sie hinzu. »Aber bevor du, aus welchem Grund auch immer, zu dem Schluss kommst, dass er dir nichts bedeutet, vergiss bitte nicht, dass er uns etwas bedeutet. Er ist der Bruder, den ich nie gehabt habe. Der Enkel, den Gram nie gehabt hat. Und der Neffe, den deine Brüder und Tante Ruth nie gehabt haben. Und er ist der Sohn des Mannes, den ihr, soweit ich das verstanden habe, alle einmal geliebt habt. Ist das, was dich abhält, wirklich schwerwiegender?«
Jetzt. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, es ihr zu sagen.
Bevor Jenny die Tür öffnet, sagt sie noch: »Onkel Boyer holt sie morgen Nachmittag am Castlegar Airport ab.«
»Sie?« Meine Stimme zittert.
»Ja. Er hat eine Familie. Eine Frau und eine drei Jahre alte Tochter.«
Die Tür fällt ins Schloss. Während ich Jennys Schritte auf dem leeren Gang verhallen höre, wird mir mit tiefer Traurigkeit bewusst, dass ich die Neuauflage der Geschichte zulasse, indem ich jetzt genauso handle, wie damals meine Mutter und ich gehandelt haben. Ich lasse zu, dass das Unausgesprochene einen Keil zwischen meine Tochter und mich treibt.
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D ER S CHLAF ENTZIEHT SICH MIR. Ich wälze mich in dem fremden Bett hin und her und dränge
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